von Felix Rieger
An der Wand eines Flures lehnt kaum sichtbar zwischen nur halb befüllten Müllsäcken ein Fahrrad, das wohl schon länger nicht mehr benutzt wurde. Eine tote Ratte liegt plattgedrückt auf dem Boden, eine zweite kriecht aus den Geschirrbergen hervor und verschwindet sofort wieder im Dickicht aus alten Verpackungen, Gerümpel und sonstigem Unrat. Heidi, so sagt sie zumindest, wollte einfach nicht mehr sauber machen. Es braucht keinen Abschluss in Psychologie, um die absolute Resignation der Leipzigerin zu spüren. Ihre Ehrlichkeit wirkt erschreckend entwaffnend auf mich, nervös kratze ich mich am Oberarm. Fast fehlt mir die Motivation, mich über sie lustig zu machen. Und das, obwohl ich mich schon innerlich darauf gefreut hatte, mich im Rahmen der nun folgenden zwei Stunden TV-Voyeurismus daran aufzugeilen, dass ich im Gegensatz zu Heidi sehr wohl in der Lage bin, meinen Haushalt zu schmeißen (oder wenigstens lasse ich ihn nicht komplett vor die Hunde gehen). Heidi hingegen hat leider das Pech, eine der Protagonisten eines weiteren Versuchs, mit der medialen Ausschlachtung von Einzelschicksalen Quote zu machen, zu sein.
Doch eins nach dem anderen. Bei der Kabel-1-Show „Raus aus
dem Zwang“ sollen zwei Menschen, die an einer Zwangsstörung erkrankt sind,
unter der Leitung eines Psychologen gemeinsam den Weg zurück in ein geordnetes
Leben finden. Für die psychologische Leitung des Experiments konnte der Sender
Michael Thiel verpflichten, der bereits in anderen Formaten wie dem ebenfalls
von Kabel 1 ausgestrahlten „Schluss mit Hotel Mama“ seine Sachkompetenz unter
Beweis stellen konnte. Da das alleine jedoch offensichtlich noch nicht
spektakulär genug ist, handelt es sich bei den Neurosen natürlich um polare
Gegensätze: So trifft in der zweiten Folge Putzfreundin Petra, die täglich nach
der Arbeit mehrere Stunden mit der Reinigung ihrer Wohnung verbringt, auf
Messie Heidi, die die letzten Jahre zwischen Abfall und Ungeziefer verlebt hat.
Man setzt also auf das altbewährte Prinzip, durch die Gegenüberstellung zweier
möglichst großer Extrema auch ein möglichst großes Konfliktpotenzial zwischen
den Protagonisten zu erzeugen. Knapp eine Woche Zeit nimmt sich Thiel dabei für
seine beiden Patienten, um ihnen durch eine Konfrontationstherapie die Zwänge
aus dem Leib zu prügeln. Jedenfalls der Psychologe selbst ist in den
Schlussmomenten der Neurosen-Festspiele voll des Lobes für seine Schützlinge,
die seine Tipps scheinbar erfolgreich umsetzen konnten. Auch ich als Zuschauer
ertappe mich dabei, wie ich wenigstens im Geiste applaudiere, als Petra
selbstbewusst dem Kameramann mitteilt, dass sie sich auf dem Weg der Besserung
sehe. Vermutlich habe ich dabei sogar etwas gelächelt. Aber kann eine derart
intensive Angst vor Schmutz wie die von Petra innerhalb von nur wenigen Tagen
wirklich weggehext werden? Tendenziell wohl eher nicht. Zumindest halte ich es
dann doch für wahrscheinlicher, dass jemand hinter den Kulissen dramaturgisch
geschickt Petra ein Happy End bescheren wollte. Für einen kurzen Moment fühlt
es sich aber einfach gut an, sich von der Inszenierung mitreißen zu lassen und
den inneren Voyeur wieder einmal ausleben zu dürfen. Immerhin: Thiels
Ratschläge machen in der Tat den Eindruck, nicht kompletter Humbug zu sein.
Tatsächlich hatte ich zu meiner großen Verwunderung an
manchen Stellen immer wieder den Eindruck, dass „Raus aus dem Zwang“ vielleicht
doch gar nicht so fürchterlich durchschaubar ist, wie es die reißerisch
geschnittene Eröffnungsszene vermuten lässt. Zum Beispiel, wenn entgegen aller
ungeschriebenen Regeln und Kodizes des Affektfernsehens kein völlig überzogener
Streit ausbricht, als Thiel Heidi bittet, Petras Küche zu benutzen. Wenn
allerdings zum x-ten Mal der Off-Sprecher den neuesten Streich des Psychologen
paraphrasiert, obwohl seit dessen eigener Erklärung keine zehn Sekunden
vergangen sind, weiß man sich aller subversiver Tendenzen zum Trotz wieder in
den sicheren Gefilden angestaubter Fernsehklischees, die man so oder so ähnlich
schon seit Jahren im Fernsehen beobachten konnte. Potenziell ergreifende
Momente wie Heidis lang ersehntes Wiedersehen mit ihren Kindern, die sie
aufgrund ihrer Zwangsstörung nicht mehr versorgen konnte, werden genretypisch
mit dramatischer Musik untermalt und Heidis Wohnung in Farbfiltern ertränkt,
damit auch wirklich jeder Zuschauer versteht, wie schlimm es doch um Heidi
steht. „Raus aus dem Zwang“ nimmt weder sein Publikum ernst noch respektiert
das Format die eigenen Hauptdarsteller. Das zeigt sich nicht zuletzt auch
daran, dass die Sendung erst dann vom Geschehen wegschneidet, wenn es einer der
Beteiligten fordert. Ist es wirklich notwendig, dass der Zuschauer jedes Detail
über Heidis Privatleben kennt? Muss man wirklich zeigen, wie die Tochter der
weinenden Mutter vorwirft, ihr eigenes und das Leben ihrer Kinder ruiniert zu
haben? Und welchen Mehrwert bekommt eine Therapie durch die Ausstrahlung im
Fernsehen zur Primetime?
Das Tragische ist ja, das von „Raus aus dem Zwang“ und
seinen Konsorten wirklich ein gewisses Unterhaltungspotenzial ausgeht.
Irgendeinen Grund muss es ja dafür geben, dass immer wieder mal mehr, mal
weniger neue Variationen desselben Schemas sich anschicken, die
Fernsehlandschaft mit ihrer Präsenz zu bereichern. So vergesse ich dann
schließlich zwischen der dritten und der vierten Werbepause aller anfänglicher
Bedenken zum Trotz jedenfalls für kurze Zeit, dass in derartigen Formaten
Menschen eigentlich nur vorgeführt werden. Mir ist egal, dass hier
wahrscheinlich niemandem langfristig geholfen wird. Mir ist auch egal, dass die
Therapie im Endeffekt nur ein Vorwand ist, um zwei gegensätzliche
Persönlichkeiten wie wütende Kampfhunde aufeinander zu hetzen, was den
Produzenten eher schlecht als recht gelingt. Eigentlich ist mir auch Petras
Behandlungserfolg egal, von dem ich ja ohnehin nie wirklich überzeugt, aber
immerhin amüsiert war. Und ehrlich gesagt ist es mir auch herzlich egal, ob
Heidi und ihre Kinder je wieder zueinander finden oder auch nicht, solange ich
mich gut unterhalten fühle. Im Ozean der maximalen Reizüberflutung aus
anrührenden Einzelgesprächen zwischen den Protagonisten und dem Psychologen,
den manchmal durchaus packenden Konfrontationen und der theatralischen
Darstellung versinkt die moralische Komponente, fast ein bisschen so wie die
Blackbox eines über dem Meer abgestürzten Flugzeugs: Mit etwas Mühe wäre sie
wohl noch zu retten, aber meistens ist das dann eben doch ein eher
hoffnungsloses Unterfangen, von dem ausnahmslos alle Beteiligten ohnehin schon
längst wissen, dass sie lieber nicht zu viel erwarten sollten.
Am Ende der Sendung geschieht dann noch ein Wunder, denn
Heidis Wohnung bekommt endlich die sowohl aus baulichen als auch aus genretechnischen
Gründen längst überfällige Generalüberholung. Es ist, als wären Tine Wittler
und ihr Team von „Einsatz in 4 Wänden“ für einen Tag aus dem vorzeitigen
Ruhestand zurückgekehrt und genau wie damals durch die Zimmer gefegt. Die Wände
sind frisch gestrichen, die Müllberge sind verschwunden und auch das Bad
erstrahlt in neuem Glanz – nur Heidi wirkt eben immer noch genauso traurig wie
am Anfang. Ich merke, wie ich mich wieder am Oberarm kratze. Angewidert von mir
selbst und dem, was ich da gerade gesehen habe, schalte ich den Fernseher aus
und versuche, mich mit einer kalten Dusche von meinem schlechten Gewissen
reinzuwaschen. Langfristigen Erfolg verspreche ich mir davon aber eher nicht.
Dafür war mein jüngster Ausflug in die Untiefen des Affektfernsehens dann eben
doch mal wieder zu kurzweilig.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen