TV Kultur und Kritik
ist im Rahmen einer Übung im Fach Medienwissenschaft an der Universität Regensburg entstanden. Der Blog versammelt Kritiken zu den unterschiedlichsten Facetten der Fernsehkultur, die von arte (Breaking Bad) bis RTLII (Die Geissens) reicht. Ziel ist es eine Kritik zu etablieren, die dem Wesen, der Rezeption und der Faszination für das Format gerecht wird. Wir sind offen für Beiträge, die die Auseinandersetzung mit dem Fernsehen erweitern.

Donnerstag, 26. August 2010

Tatort Wohnzimmer: Ein ganz gewöhnlicher Sonntagabend bei den Müllers














von Christopher Bogatzki


Sonntag Abend 19:34 Uhr, bei den Müllers bricht allmählich Unruhe aus. Der Herr des Hauses, seinerseits Mathematiklehrer am ortseigenen Gymnasium des Provinz-Städtchens Neuburg, ist noch immer nicht von seinem Hobbytennisturnier zurückgekehrt. Dies erscheint angesichts der Tatsache, dass Ursula das Essen bereits seit 19:15 Uhr, wie ursprünglich mit ihrem Mann Peter vereinbart, angerichtet hat, und klein Felix, sowie die ältere Schwester Anna mit jeder Minute zappeliger werden, unglaublich und unerträglich. Plötzlich geht dann alles sehr schnell: Ein Schlüssel klimpert, die Tür öffnet sich, und Peter stürmt zu Tisch. Nach einer kurz angebundene Entschuldigung wird endlich gegessen. Auf das Hauptgericht folgt fast ohne Verschnaufpause die Nachspeise und Peter verliert noch schnell ein paar ernste Worte in Richtung Anna, die gerade erst in die 5. Klasse gekommen ist, und zu seinem Frust schon jetzt als äußerst 'aktiv' von seinen Kollegen wahrgenommen wird. Ursula ist sich sicher, das Rezept dagegen gefunden zu haben, Anna brauche einfach mehr Schlaf.

All diese Sorgen scheinen sich etwa ab 20:13 Uhr in Luft aufgelöst zu haben. Der kleine Felix ist bereits im Bett, und die übrigen Müllers sitzen jetzt voller Vorfreude vor dem für die relativ überschaubare Größe des Reihenhauses etwas überdimensional erscheinenden Fernseher. Während des kurzen Sponsoren-Werbespot vor der Wettervorhersage zeigt sich Felix erneut in der Wohnzimmertür. So ganz alleine in seinem Zimmer fühlt er sich nicht wohl. Ursula entschließt sich, Felix einmal mehr nach oben zu begleiten, wobei sie im hinauslaufen hört, dass sich Peter wie üblich über die Tagesschau ärgert, da diese für den Wetterbericht zwei Minuten mehr veranschlagt, als im Zeitplan vorgesehen. Wenige Minuten später ist auch Ursula zurück und diskutiert mit Anna darüber, wie lange sie dem Fernsehvergnügen am heutigen Abend beiwohnen darf. Man einigt sich schließlich auf 21:10 Uhr, denn am nächsten Tag entfällt für Anna die erste Unterrichtsstunde. Endlich ist es soweit der geliebte „Tatort“ nimmt seinen Lauf!

Ähnlich wie Familie Müller geht es sonntags ca. 7,2 Millionen Zuschauern, die sich vom „Tatort“ Woche für Woche in den Bann ziehen lassen. Wie weit die Faszination „Tatort“ reicht, sieht man auch daran, dass stetig mehr Cafés und Bars den „Tatort“ auch öffentlich zeigen. So kommt es, dass man sich in einer In-Kneipe Stuttgarts spätestens um 19:45 Uhr einfinden muss, um einen einigermaßen akzeptablen Sitzplatz für das Filmvergnügen zu ergattern.

Alles begann am 29.11.1970 mit der Ausstrahlung der ersten „Tatort“-Folge, die den Titel „Taxi nach Leipzig“ trug. In ihr ermittelt Walter Richter als Kommissar Trimmel im Auftrag des Gesetzes als erster „Tatort“-Kommissar erfolgreich gegen das Verbrechen. Seit diesem Tag, der als Geburtsstunde für eines der erfolgreichsten Formate im deutschen Fernsehen in die Film- und Fernsehgeschichte einging, wurden insgesamt 771 verschiedene „Tatort“- Folgen ausgestrahlt und unzähligen Verbrechern das Handwerk gelegt. Der stetige Erfolg der Ermittler ist zugleich ein wesentlicher Aspekt der Format-Strategie: Während der Zuschauer gespannt der Handlung und somit der voranschreitenden Aufklärung folgt, wird ihm unbewusst klar gemacht, dass die Kriminalbehörden hier zu Lande noch jedes Verbrechen aufklären können.

Das Erfolgskonzept des „Tatorts“ wurde von Gunther Witte entwickelt. Dieser erhielt vom WDR den Auftrag, ein Nachfolgeformat für die bis 1968 ausgestrahlte sehr beliebte „Stahlnetz“ Krimireihe der ARD zu entwickeln, und dementsprechend ein konkurrenzfähiges Format als Gegenstück zur Sendung „Der Kommissar“ des ZDF im Programm zu haben. Das Wesentlichste an Wittes Konzept, das den „Tatort“ noch 40 Jahre nach seiner Erstausstrahlung so erfolgreich macht, ist die Tatsache, dass man sich auf realistische Szenarien und Handlungen beschränkt. Im Gegensatz zu US-amerikanischen Formaten wie „C.S.I. New York“ oder „Miami Vice“, die oft von der „Traumfabrik Hollywood“ geprägt sind, wird beim „Tatort“ bewusst auf unnötige Actionszenen verzichtet. Es geht vielmehr darum, einen authentischen Einblick in die Arbeit der Kriminalpolizei zu vermitteln. Dass dies nicht immer zu 100% umgesetzt werden kann, hängt damit zusammen, dass die Kommissare pro Folge nur über ca. 90 Minuten Ermittlungsszeit verfügen, in der sie höchst komplexe und verstrickte Kriminalfälle lösen müssen. All zu oft kommt es deshalb dazu, dass Sachverhalte mit Hilfe eines nicht ganz nachvollziehbaren Geniestreichs des Ermittlers gegen Ende der Folge gelöst werden. Neben der Idee, realistisch erscheinende Begebenheiten zum Thema zu machen, lebt der „Tatort“ davon, dass für die Produktionen die jeweils verschiedenen Rundfunkanstalten der ARD zuständig sind. Jede lässt dabei ihr eigenes 'eingespieltes' „Tatort“-Team in ausgewählten Städten ermitteln. Hinzu kommt ein Team in der Schweiz und ein weiteres in Österreich, was den „Tatort“ auch über die deutschen Grenzen hinaus sehr beliebt macht. Der bewusst hergestellte Bezug zu den Drehorten stellt einen weiteren wichtigen Bestandteil des Formats dar. Repräsentative Bauwerke der jeweiligen Stadt, wie beispielsweise der Stuttgarter Fernsehturm, oder die Marktkirche in Hannover, werden bevorzugt von der Kamera eingefangen. Dies trägt dazu bei, dass es dem 'ansässigen' Zuschauer leicht fällt, sich mit dem Format zu identifizieren, während der 'fremde' Zuschauer einen neutralen Blick auf eine andere, ihm oft unbekannte Stadt werfen kann.

Zurück ins Wohnzimmer der Müllers: Die heutige Folge, die den Titel „Erntedank e.V.“ trägt, spielt in Hannover. Die zuständige Kommissarin heißt Charlotte Lindholm, gespielt von Maria Furtwängler. Dies erfreut vor allem Ursula. Peter hingegen ist der Meinung, dass die schwierige Aufgabe in Kriminalfällen dieses Ausmaßes zu ermitteln eher einem Mann anvertraut werden solle. Der Kenner weiß allerdings, dass Lindholm bereits in ihrem 12. Fall ermittelt und mit ihrem Charme und Wille zum Erfolg den männlichen Kollegen mindestens ebenbürtig, wenn nicht gar voraus ist. „Erntedank e.V.“ ist wie so oft eine Wiederholung. Die Erstausstrahlung erfolgte bereits am 30. März 2008. Zuständig für die Produktion war der NDR. Die Autorin und zugleich Regisseurin Angelina Maccarone hat mit dieser Folge ihr zweites Tatort-Projekt abgewickelt. Das Phänomen, dass Autorenschaft und Regieführung in Personalunion ausgeführt wird, ist beim „Tatort“ schon früh zu einer Art immer wiederkehrenden Tradition geworden. Begründet wurde diese von Eberhard Fechner, der sich dieser Doppelaufgabe 1971 als erster stellte.

Wie in den meisten „Tatort“ Folgen, wird der Zuschauer auch in „Erntedank e.V“ relativ früh mit einer Leiche konfrontiert, die den Anstoß für die polizeilichen Ermittlungen gibt. Kommissarin Lindholm, die eigentlich im Mutterschutz ist und sich im Schrebergarten ihres Mitbewohners erholen will, wird bereits bei ihrer Ankunft vor Ort misstrauisch, als sie sieht, wie die Leiche von Albrecht Leimen, dem Vorstand des Vereins der Kolonie „Erntedank e.V.“, abtransportiert wird. Innerhalb kürzester Zeit ist sich Lindholm sicher, dass der plötzliche Tod von Leimen kein Zufall sein kann. So nehmen die Ermittlungen ihren Lauf.

Nachdem die Müllers allmählich alle Charaktere der Folge kennen gelernt haben, beginnt das legendäre Ratespiel um den vermeintlichen Täter. Selbst die kleine Anna, anfangs noch nicht sicher, ob sie sich ihrer Mutter oder ihren Vater anschließen soll, kann sich am Ende entscheiden. Wie meistens schließt sie sich Ursulas Meinung an.

In „Erntedank e.V.“ wird, wie man es von vielen „Tatort“-Folgen kennt, ein aktuelles gesellschaftliches Thema aufgegriffen und behandelt. Die Folge liefert einen nicht auf den ersten Blick offensichtlichen familienpolitischen Beitrag indem sie uns zeigt, dass ein kleines Kind eine Bereicherung und kein berufliches Hindernis für eine junge, alleinerziehende Mutter darstellt. Diese Botschaft wird aber nicht nur allein durch die Handlung an sich, sondern darüber hinaus durch gestalterische Mittel verstärkt. So sieht man Lindholm beispielsweise auf einem Erntedankfest kugelrund als Kürbis verkleidet auftreten. Sehr häufig wird sie außerdem mit dem Baby auf dem Arm gezeigt.

Mittlerweile ist es 21:14 Uhr und Anna sitzt noch immer vor dem Fernseher. Sie überlegt kurz, ob sie freiwillig ins Bett gehen soll, entschließt sich dann aber zu bleiben. Beim „Tatort“ Schauen hat sie in den letzten Wochen immer wieder die Erfahrung gemacht, dass ihre Eltern aufgrund der werbefreien Sendung und der daraus resultierenden ununterbrochenen Spannung des Geschehens oft nicht die Zeit finden, an sie zu denken.

Trotz seines Anspruches an den Zuschauer, den viele vielleicht gar nicht so bewusst wahrnehmen, ist der „Tatort“ ein Erfolgsprodukt der breiten Masse. Dank der Regelmäßigkeit, mit der er ausgestrahlt wird, ist er zu einer Kultsendung des deutschen Fernsehens geworden. Mit dem „Tatort“ verbinden viele den Ausklang des Wochenendes: Man kann sich noch einmal entspannen und wird gleichzeitig daran gehindert, an die neue Woche zu denken. Leicht kann solch ein Format zur Gewohnheit werden.

Am Ende der heutigen Folge hat sich Peter wieder einmal in seinen Spekulationen geirrt, und Ursula geht als Siegerin im 'Wer ist der Täter' Rateduell hervor. Anna hat es geschafft, die komplette Folge mit anzuschauen und verschwindet nun leise und unauffällig aus dem Wohnzimmer, um sich eine weitere Ermahnung zu ersparen.

Auch wenn ich selber kein regelmäßiger „Tatort“ Betrachter bin, muss ich eingestehen, dass mich dieses Format immer wieder als Zuschauer gewinnen kann. An vielen gemütlichen sonntäglichen Fernsehabenden bin ich letzten Endes am „Tatort“ hängen geblieben. Natürlich habe ich mit den Stuttgarter Kommissaren Thorsten Lannert und Sebastian Bootz auch mein Lieblings- Ermittlerteam gefunden. Dies liegt wahrscheinlich vor allem daran, dass ich als Stuttgarter den einen oder anderen Drehort erkennen kann.

Das Ehepaar Müller lässt den Abend noch mit einem Gläschen Rotwein ausklingen, bevor es um 23:00 Uhr todmüde ins Bett fällt. Dank des "Tatorts" ist Peter noch immer in Gedanken versunken und kann sich entsprechend wenig um die bevorstehende Woche sorgen.