TV Kultur und Kritik
ist im Rahmen einer Übung im Fach Medienwissenschaft an der Universität Regensburg entstanden. Der Blog versammelt Kritiken zu den unterschiedlichsten Facetten der Fernsehkultur, die von arte (Breaking Bad) bis RTLII (Die Geissens) reicht. Ziel ist es eine Kritik zu etablieren, die dem Wesen, der Rezeption und der Faszination für das Format gerecht wird. Wir sind offen für Beiträge, die die Auseinandersetzung mit dem Fernsehen erweitern.

Freitag, 13. August 2010

Wo warst du als die Loveparade nach Duisburg kam? Zur Berichterstattung von der Loveparade im WDR













Von Alexander Böck

Es gibt diese einschneidenden Momente im Fernsehen. Momente, in denen man als Zuschauer von einem historischen Ereignis erschüttert wird. Momente, in denen die Bilder für sich sprechen und die Zuschauer selbst erst einmal sprachlos werden. In diesen Situationen müssen uns die Berichterstatter im Fernsehen an die Hand nehmen und erklären, was da gerade vor sich geht. Denn wenn so etwas Bewegendes geschieht, brennen sich nicht nur den unmittelbar Beteiligten, sondern auch den Fernsehzuschauern die Bilder des Ereignisses ins Gedächtnis ein. Viele Menschen können sich noch Jahre später an kleine, eigentlich unwichtige Details erinnern. Wo und mit wem sie zusammen waren, was sie gemacht haben, welche Pläne sie für den Tag hatten und welche Gefühle sie bewegten.
Mit diesen Momenten beschäftigt sich auch eine Sendungsreihe in der ARD, die den Titel „Wo warst du, als ...“ trägt. In diesem Format kommen Zeitzeugen zu Wort, die meist selbst etwas Dramatisches erlebt haben oder in sonst einer besonderen Verbindung zum Geschehnis stehen. Nach nur drei Sendungen im Februar 2009 mit den Themen 11. September, Fall der Berliner Mauer und der Tsunamiwelle am 26.12.2004 wurde die Sendung jedoch wieder abgesetzt. Aber nach dem Fußball-WM-Finale vor einiger Zeit bekam die Reihe am Sonntag zu später Stunde wieder einen Platz im Programmschema. Das passende Thema der Auftaktsendung am 11. Juli war die Fußball-WM 2006 in Deutschland. Die Sendung wusste mit den Emotionen der Zuschauer richtig umzugehen, denn die Bilder vermittelten sofort wieder die positiven Gefühle von Public Viewing und Sommerhitze. Dazu verliehen die zumeist interessanten Anekdoten der Sendung menschliche Nähe. Bis zum 8. August kamen noch vier weitere Folgen, die leider ein wenig im Nachtprogramm der ARD untergingen. Schließlich erfüllt die Sendung einen wichtigen Zweck.
Solche Ereignisse haben eine identitätsstiftende Funktion in unserer Gesellschaft und sind in unser „kollektives Gedächtnis“ eingegangen. Der französische Philosoph und Soziologe Maurice Halbwachs entwickelte in den 1920er Jahren dieses Konzept der gemeinsamen Gedächtnisleistung einer Gruppe von Menschen. Demnach haben Menschen nicht nur individuelle Erfahrungen. Das kollektive Gedächtnis bildet einen gemeinsamen Rahmen für bestimmtes gruppenspezifisches Wissen. Das können Feste wie Weihnachten sein, aber auch historische Ereignisse wie die Französische Revolution. Das Medium Fernsehen nimmt bei der Vermittlung solcher kollektiven Erfahrungen eine prägende Rolle ein und vermittelt mithilfe seiner audiovisuellen Struktur greifbare Nähe zu Geschehnissen. Ereignisse wie der Mauerfall oder der Terroranschlag vom 11. September in New York waren zu Gast in den Wohnräumen der Zuschauer. Die ständige Wiederholung der immer gleichen Bilder verstärkt dazu die Etablierung im kollektiven Gedächtnis der fernsehenden Weltbevölkerung.
Am 24. Juli 2010 wurde der Zuschauer wieder Zeuge eines solchen Moments im deutschen Fernsehen. Der WDR übertrug seit 13.40 Uhr live von der Loveparade in Duisburg und hatte bei der Berichterstattung nicht beim technischen Equipment gespart. Tragischerweise waren die Veranstalter nicht so gut vorbereitet, wie sich an diesem Tag herausstellte. Dabei gab es auch für die Medienleute genug Schwierigkeiten, dieses Großereignis fernsehgerecht aufzubereiten. Zahlreiche Kameras und Reporter wurden über das gesamte Veranstaltungsgelände am ehemaligen Duisburger Güterbahnhof verteilt. Doch wie vermittelt man den Zuschauern zu Hause einen Eindruck von einem Terrain, das größer als 30 Fußballfelder ist und Platz für eine halbe Million Menschen bietet? Als die Party noch im vollen Gang war, bot eine Supertotale den Zuschauern über lange Phasen der Sendung aus einiger Entfernung einen Überblick über das gesamte Gelände. Dazu lief im Hintergrund die elektronische Live-Musik eines im Kreis fahrenden „floats“, also der Lastwägen mit DJs und tanzenden Ravern. Interessanter wurde es allerdings, als die Moderatoren Thomas Bug und Catherine Vogel übernahmen. Ihre informativen Erklärungen verwiesen vor allem auf den Abend, an dem die großen Stars der Technoszene auflegen sollten. Der Zuschauer verblieb allerdings nie lange bei den beiden, sondern wurde im ständigen Wechsel von einem Außenreporter zum nächsten geschickt. Mit besonderem Vergnügen verfolgte ich dabei die Radiomoderatorin Sabine Heinrich, die mit ihrem ausgeflippten Benehmen die Stimmung gut rüber brachte. Ansonsten faszinierte mich noch die Splitscreen-Optik, die stark von der US-Actionserie 24 inspiriert schien. Mehrere Kameraeinstellungen von unterschiedlichen Geländeschauplätzen zeigten die Vielfalt dieser Veranstaltung, dazu wurde eine Digitaluhr in der Mitte des Bildes positioniert. Mit dieser Multiperspektivität vermittelte der WDR durchaus eine gewisse Allgegenwärtigkeit auf der Loveparade, vom Hauptbahnhof bis zum VIP-Bereich war alles zu sehen. Doch der wichtigste Ort des Geschehens am 24. Juli 2010 in Duisburg wurde sowohl vom Veranstalter als auch vom WDR nicht mit Kameras überwacht; der Tunnel.
Es war kurz nach 18 Uhr, als sich etwas geändert hatte. Man sah es sofort an den betroffenen Mienen von Thomas Bug und Catherine Vogel. Bug berichtete von der Meldung, die der Loveparade eine traurige Wendung bescheren sollte: „ Wir müssen eine wirklich tragische, eine schlimme Nachricht weitergeben. […] Für uns ist die Party jetzt beendet. […] Es gab offenbar eine Massenpanik am Tunnel…“. Das Irritierende für den Zuschauer war, das sich ansonsten nichts verändert hatte. Im Hintergrund waren noch die fröhlich tanzenden Raver zu sehen und die elektronische Musik dröhnte mit derselben Lautstärke aus den Lautsprechern. Es gab keine Bilder, die diese Meldung in die Zuschauerrealität einordnen konnten. Keine Verletzten, keine Sanitäter, keine Panik. Das war am 11. September anders. Damals gab es Bilder vom Flugzeug, das ins World Trade Center einschlug. Man konnte sofort etwas mit der Meldung visuell verknüpfen. Die Duisburger Tunnelbilder, die zur Zeit des Unglücks aufgenommen wurden, kamen erst im Verlauf der nächsten Tage als Handyvideos ins Internet.
In der Zeit um kurz nach 18 Uhr hing man als Fernsehzuschauer dagegen schockiert an den Lippen von Bug, Vogel, Heinrich usw. Man fragte sich: Was ist da genau passiert? Wo gab es diese Massenpanik? Was war ihr Auslöser? Diese Fragen waren jedoch nicht sofort zu beantworten, wie auch Bug erklärte: „Es ist für uns auch nicht unbedingt leichter, an Informationen heran zu kommen." Trotz der großen WDR-Präsenz vor Ort dauerte es lange Zeit, bis die Kamerateams bessere Bilder liefern konnten. Bis dahin musste die Perspektive von der Hauptbühne genügen, die viele 100 Meter entfernt lag. Eine weitere Schwierigkeit lag darin, dass es an diesem Abend keine offiziellen Stimmen von Seiten der Verantwortlichen gab. Das Fesselnde an solchen Fernsehereignissen ist, dass die Informationen so langwierig über den Abend verteilt zum Zuschauer gelangen. Im Unterschied zu Nachrichtensendungen, bei denen man kompakt und gebündelt das Wichtigste vom Tag erfährt, sind diese Unglückssondersendungen zumeist wahre Marathons. Das Informationsbedürfnis vieler Zuschauer ist dennoch so groß, dass sie jede noch so kleine Neuigkeit erfahren möchten und dran bleiben. Gerade in und um Duisburg kannte fast jeder Zuschauer jemanden, der auf der Loveparade war. Für diese Menschen hat so ein Fernsehereignis eine tiefe persönliche Relevanz, gerade deswegen, weil die Mobilfunknetze zusammenbrachen und man kaum Kontakt zu den Loveparade-Besuchern herstellen konnte. Doch an diesem WDR-Abend gab es nur wenig Aufschlussreiches zu berichten. Dazu musste sich die WDR-Regieleitung folgende Frage stellen: Wie bildet man ein Unglück ab, von dem es keine entsprechenden Bilder gibt? Die Bilder von feiernden Ravern waren mit elektronischer Dauerbeschallung unterlegt und passten atmosphärisch einfach nicht in dieses Szenario. Dem WDR ist sicher kein Vorwurf zu machen. Sie kann die Musik nicht einfach rausfiltern oder nur noch aus dem Studio berichten. Gerade durch diese Live-Berichterstattung entstand aber dieser unwirkliche, bizarre Konflikt zwischen Information und audio-visueller Perzeption. In meinem Gedächtnis ist mir bei der Betrachtung der Sendung eine Kameraeinstellung besonders hängen geblieben, obwohl ich sie danach nicht mehr im Internet gesehen habe. Sie zeigte die Schwere des Unglücks besser, als alle Krankenwägen und Rettungshubschrauber zusammen. Nachdem Sabine Heinrich zu Ende berichtet hatte von den neuesten Entwicklungen, die sie erfahren hatte, drehte sie sich um und stand mit dem Rücken zur Kamera mit dem Blick Richtung Tunnel. Eigentlich sollte in diesem Moment wieder ins Studio zu den Moderatoren Bug und Vogel gewechselt werden, doch der Regisseur hatte das richtige Gespür für die Situation. Heinrich weiß nicht, dass sie im Bild bleibt und sieht gedankenverloren auf den Unglücksort, der wenige hundert Meter entfernt liegt. Sie schüttelt nur mit dem Kopf und stützt sich mit den Armen auf dem Geländer vor ihr ab. Nach einer gefühlten Ewigkeit, die nur 20 Sekunden dauerte, dreht sie sich wieder um und merkt, dass sie noch auf Sendung ist. Sie wirkt leicht irritiert, als der Schnitt zurück ins Studio erfolgt. Dieser Moment wirkte sehr persönlich und gab einen kleinen Einblick in die Gefühlswelt der langjährigen Radiomoderatorin von 1 Live. Diese Szene gab der Katastrophe ein erstes unverstelltes Gesicht.
Bis heute sind längst nicht alle Fragen geklärt. Die Staatsanwaltschaft Duisburg ermittelt, wer die Verantwortlichen für das Unglück sind und wie es dazu kommen konnte. Vielleicht wird die Schuldfrage nicht eindeutig geklärt werden, weil es zu viele ungeklärte Zuständigkeiten zwischen Politik, Polizei und Veranstalter gab. Das wird sich zeigen. Für mich persönlich war dieses Fernsehereignis jedenfalls eine faszinierende Erfahrung, die durch ihre bizarre Mischung aus Party und Tod einen besonderen Stellenwert in meiner Rezeptionserinnerung einnimmt. Meine Hoffnung ist es, dass ich eines Tages von Beteiligten wie Sabine Heinrich ihre Sicht der Dinge erfahren kann. Wie schnell hat sie realisiert, was passiert ist? Wie konzentriert man sich auf seine Arbeit, wenn etwas Unerwartetes wie in Duisburg passiert? Und was hat sie in dem Moment gedacht, als sie noch für 20 Sekunden im Bild war? Es wäre schön, wenn ich das in ein paar Jahren in der Sendung „Wo warst du, als die Loveparade nach Duisburg kam? “ sehen könnte.

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