TV Kultur und Kritik
ist im Rahmen einer Übung im Fach Medienwissenschaft an der Universität Regensburg entstanden. Der Blog versammelt Kritiken zu den unterschiedlichsten Facetten der Fernsehkultur, die von arte (Breaking Bad) bis RTLII (Die Geissens) reicht. Ziel ist es eine Kritik zu etablieren, die dem Wesen, der Rezeption und der Faszination für das Format gerecht wird. Wir sind offen für Beiträge, die die Auseinandersetzung mit dem Fernsehen erweitern.

Montag, 4. September 2017

„Raus aus dem Zwang“ und die bittersüße Erkenntnis, Teil des Problems zu sein



von Felix Rieger

An der Wand eines Flures lehnt kaum sichtbar zwischen nur halb befüllten Müllsäcken ein Fahrrad, das wohl schon länger nicht mehr benutzt wurde. Eine tote Ratte liegt plattgedrückt auf dem Boden, eine zweite kriecht aus den Geschirrbergen hervor und verschwindet sofort wieder im Dickicht aus alten Verpackungen, Gerümpel und sonstigem Unrat. Heidi, so sagt sie zumindest, wollte einfach nicht mehr sauber machen. Es braucht keinen Abschluss in Psychologie, um die absolute Resignation der Leipzigerin zu spüren. Ihre Ehrlichkeit wirkt erschreckend entwaffnend auf mich, nervös kratze ich mich am Oberarm. Fast fehlt mir die Motivation, mich über sie lustig zu machen. Und das, obwohl ich mich schon innerlich darauf gefreut hatte, mich im Rahmen der nun folgenden zwei Stunden TV-Voyeurismus daran aufzugeilen, dass ich im Gegensatz zu Heidi sehr wohl in der Lage bin, meinen Haushalt zu schmeißen (oder wenigstens lasse ich ihn nicht komplett vor die Hunde gehen). Heidi hingegen hat leider das Pech, eine der Protagonisten eines weiteren Versuchs, mit der medialen Ausschlachtung von Einzelschicksalen Quote zu machen, zu sein.


Doch eins nach dem anderen. Bei der Kabel-1-Show „Raus aus dem Zwang“ sollen zwei Menschen, die an einer Zwangsstörung erkrankt sind, unter der Leitung eines Psychologen gemeinsam den Weg zurück in ein geordnetes Leben finden. Für die psychologische Leitung des Experiments konnte der Sender Michael Thiel verpflichten, der bereits in anderen Formaten wie dem ebenfalls von Kabel 1 ausgestrahlten „Schluss mit Hotel Mama“ seine Sachkompetenz unter Beweis stellen konnte. Da das alleine jedoch offensichtlich noch nicht spektakulär genug ist, handelt es sich bei den Neurosen natürlich um polare Gegensätze: So trifft in der zweiten Folge Putzfreundin Petra, die täglich nach der Arbeit mehrere Stunden mit der Reinigung ihrer Wohnung verbringt, auf Messie Heidi, die die letzten Jahre zwischen Abfall und Ungeziefer verlebt hat. Man setzt also auf das altbewährte Prinzip, durch die Gegenüberstellung zweier möglichst großer Extrema auch ein möglichst großes Konfliktpotenzial zwischen den Protagonisten zu erzeugen. Knapp eine Woche Zeit nimmt sich Thiel dabei für seine beiden Patienten, um ihnen durch eine Konfrontationstherapie die Zwänge aus dem Leib zu prügeln. Jedenfalls der Psychologe selbst ist in den Schlussmomenten der Neurosen-Festspiele voll des Lobes für seine Schützlinge, die seine Tipps scheinbar erfolgreich umsetzen konnten. Auch ich als Zuschauer ertappe mich dabei, wie ich wenigstens im Geiste applaudiere, als Petra selbstbewusst dem Kameramann mitteilt, dass sie sich auf dem Weg der Besserung sehe. Vermutlich habe ich dabei sogar etwas gelächelt. Aber kann eine derart intensive Angst vor Schmutz wie die von Petra innerhalb von nur wenigen Tagen wirklich weggehext werden? Tendenziell wohl eher nicht. Zumindest halte ich es dann doch für wahrscheinlicher, dass jemand hinter den Kulissen dramaturgisch geschickt Petra ein Happy End bescheren wollte. Für einen kurzen Moment fühlt es sich aber einfach gut an, sich von der Inszenierung mitreißen zu lassen und den inneren Voyeur wieder einmal ausleben zu dürfen. Immerhin: Thiels Ratschläge machen in der Tat den Eindruck, nicht kompletter Humbug zu sein.

Tatsächlich hatte ich zu meiner großen Verwunderung an manchen Stellen immer wieder den Eindruck, dass „Raus aus dem Zwang“ vielleicht doch gar nicht so fürchterlich durchschaubar ist, wie es die reißerisch geschnittene Eröffnungsszene vermuten lässt. Zum Beispiel, wenn entgegen aller ungeschriebenen Regeln und Kodizes des Affektfernsehens kein völlig überzogener Streit ausbricht, als Thiel Heidi bittet, Petras Küche zu benutzen. Wenn allerdings zum x-ten Mal der Off-Sprecher den neuesten Streich des Psychologen paraphrasiert, obwohl seit dessen eigener Erklärung keine zehn Sekunden vergangen sind, weiß man sich aller subversiver Tendenzen zum Trotz wieder in den sicheren Gefilden angestaubter Fernsehklischees, die man so oder so ähnlich schon seit Jahren im Fernsehen beobachten konnte. Potenziell ergreifende Momente wie Heidis lang ersehntes Wiedersehen mit ihren Kindern, die sie aufgrund ihrer Zwangsstörung nicht mehr versorgen konnte, werden genretypisch mit dramatischer Musik untermalt und Heidis Wohnung in Farbfiltern ertränkt, damit auch wirklich jeder Zuschauer versteht, wie schlimm es doch um Heidi steht. „Raus aus dem Zwang“ nimmt weder sein Publikum ernst noch respektiert das Format die eigenen Hauptdarsteller. Das zeigt sich nicht zuletzt auch daran, dass die Sendung erst dann vom Geschehen wegschneidet, wenn es einer der Beteiligten fordert. Ist es wirklich notwendig, dass der Zuschauer jedes Detail über Heidis Privatleben kennt? Muss man wirklich zeigen, wie die Tochter der weinenden Mutter vorwirft, ihr eigenes und das Leben ihrer Kinder ruiniert zu haben? Und welchen Mehrwert bekommt eine Therapie durch die Ausstrahlung im Fernsehen zur Primetime?

Das Tragische ist ja, das von „Raus aus dem Zwang“ und seinen Konsorten wirklich ein gewisses Unterhaltungspotenzial ausgeht. Irgendeinen Grund muss es ja dafür geben, dass immer wieder mal mehr, mal weniger neue Variationen desselben Schemas sich anschicken, die Fernsehlandschaft mit ihrer Präsenz zu bereichern. So vergesse ich dann schließlich zwischen der dritten und der vierten Werbepause aller anfänglicher Bedenken zum Trotz jedenfalls für kurze Zeit, dass in derartigen Formaten Menschen eigentlich nur vorgeführt werden. Mir ist egal, dass hier wahrscheinlich niemandem langfristig geholfen wird. Mir ist auch egal, dass die Therapie im Endeffekt nur ein Vorwand ist, um zwei gegensätzliche Persönlichkeiten wie wütende Kampfhunde aufeinander zu hetzen, was den Produzenten eher schlecht als recht gelingt. Eigentlich ist mir auch Petras Behandlungserfolg egal, von dem ich ja ohnehin nie wirklich überzeugt, aber immerhin amüsiert war. Und ehrlich gesagt ist es mir auch herzlich egal, ob Heidi und ihre Kinder je wieder zueinander finden oder auch nicht, solange ich mich gut unterhalten fühle. Im Ozean der maximalen Reizüberflutung aus anrührenden Einzelgesprächen zwischen den Protagonisten und dem Psychologen, den manchmal durchaus packenden Konfrontationen und der theatralischen Darstellung versinkt die moralische Komponente, fast ein bisschen so wie die Blackbox eines über dem Meer abgestürzten Flugzeugs: Mit etwas Mühe wäre sie wohl noch zu retten, aber meistens ist das dann eben doch ein eher hoffnungsloses Unterfangen, von dem ausnahmslos alle Beteiligten ohnehin schon längst wissen, dass sie lieber nicht zu viel erwarten sollten. 

Am Ende der Sendung geschieht dann noch ein Wunder, denn Heidis Wohnung bekommt endlich die sowohl aus baulichen als auch aus genretechnischen Gründen längst überfällige Generalüberholung. Es ist, als wären Tine Wittler und ihr Team von „Einsatz in 4 Wänden“ für einen Tag aus dem vorzeitigen Ruhestand zurückgekehrt und genau wie damals durch die Zimmer gefegt. Die Wände sind frisch gestrichen, die Müllberge sind verschwunden und auch das Bad erstrahlt in neuem Glanz – nur Heidi wirkt eben immer noch genauso traurig wie am Anfang. Ich merke, wie ich mich wieder am Oberarm kratze. Angewidert von mir selbst und dem, was ich da gerade gesehen habe, schalte ich den Fernseher aus und versuche, mich mit einer kalten Dusche von meinem schlechten Gewissen reinzuwaschen. Langfristigen Erfolg verspreche ich mir davon aber eher nicht. Dafür war mein jüngster Ausflug in die Untiefen des Affektfernsehens dann eben doch mal wieder zu kurzweilig.

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