TV Kultur und Kritik
ist im Rahmen einer Übung im Fach Medienwissenschaft an der Universität Regensburg entstanden. Der Blog versammelt Kritiken zu den unterschiedlichsten Facetten der Fernsehkultur, die von arte (Breaking Bad) bis RTLII (Die Geissens) reicht. Ziel ist es eine Kritik zu etablieren, die dem Wesen, der Rezeption und der Faszination für das Format gerecht wird. Wir sind offen für Beiträge, die die Auseinandersetzung mit dem Fernsehen erweitern.

Montag, 3. Juli 2017

RTL2 als Fenster zur Welt: Babystation, Teeniemütter und Armes Deutschland


von Herbert Schwaab 

Wenn in einem Dokuformat über sehr junge Eltern ein Paar Angelina und Joel (beide aus Schernbeck, er will den Hauptschulabschluss nachholen) heißt und dann zu einem anderem Paar (Jennifer und Jens aus Apolda, sie langsam, aber bestimmt, er ehr antriebslos, aber lieb) gewechselt wird, deren Kinder Joel und Justin Lukas heißen, scheint klar zu sein, in welcher Welt wir uns bewegen: der Welt von Doku-Soaps, die die untersuchten und dokumentierten Subjekte in den großen Randbezirken der Gesellschaft finden und für unseren faszinierten, aber leicht angeekelten Blick ausstellen. Das Format heißt Teeniemütter, das erstaunlich viele überjunge, überforderte Mütter und Väter findet und uns zeigt. Die schwangere Angelina ist 15, Jennifer ist 19 und hat bereits ihr zweites Kind bekommen. Das Format läuft bei RTL2 am Mittwochabend in der Babyschiene, es folgen ihm noch Die Babystation: Jeden Tag ein kleines Wunder und Wunschkinder. 

Angelina (15) & Joel (16) bei Teeniemütter  (https://www.derwesten.de/staedte/nachrichten-aus-wesel-hamminkeln-und-schermbeck/angelina-15-und-joel-16-aus-schermbeck-in-doku-soap-id12171246.html)

Das Programm von RTL2 besteht nahezu ausschließlich aus Dokumentationen, Doku-Soaps und scripted Reality-Formaten, am Donnerstag kommt erst nach Mitternacht mit einem Spielfilm ein anderes Format des Fernsehens, an anderen Tagen kommen die Spielfilme und Serien wie The Walking Dead etwas früher, aber sonst ist das Programm komplett dominiert von dokumentarischen Formaten im weitesten Sinne. Es ist sehr leicht, sich über diese Formate lustig zu machen, ihre Manipulationen anzuprangern, ihr Ausstellen und Einordnen von Menschen niederen Einkommens, wenig Bildung und hohem Aggressionspotenzial zu kritisieren. Eine fernsehwissenschaftliche Sammlung von Aufsätzen bezeichnet Fernsehen als Agentur des Sozialen, als Instanz, die Menschen klassifiziert, mit Begriffen wie Unterschichtenfernsehen erst einer sogenannten Unterschicht Form verleiht und durch die Problematisierung von Menschen und Lebensverhältnissen seine Themen sucht und findet. Formate wie Teeniemütter oder Armes Deutschland – Abrackern oder Stempeln, das am Montagabend läuft und Hartz-4 Empfänger in ihrem Alltag begleitet, richten sich tatsächlich mal mehr und mal weniger zufällig auf ein bestimmtes Milieu aus und scheinen damit nicht nur Gegenstände gefunden zu haben, die eine Faszination für das Andere und Fremde anderer Schichten bedienen, sondern auch Sicherheit und Bestätigung für unsere eigene soziale Situiertheit bieten, weil es so leicht ist, sich über diese Welt zu erheben. Es ist sehr verlockend, sie in eine Reihe zu setzen mit unerträglich krawalligen Formaten wie Frauentausch (das mal besser war) oder scripted Reality Serien wie Köln 50667 oder Berlin – Tag und Nacht.

Aber ganz so leicht ist es nicht. Der genaue Blick auf Teeniemütter, Babystation oder Armes Deutschland offenbart auch etwas anderes. Natürlich sind es extrem für das Fernsehen formatierte, serielle und segmentierte Formate, zerstückelt in so kleine Elemente, dass es bisweilen für die Wirklichkeit schwierig wird, uns „Hallo, ich bin hier“ zu sagen. Alle drei Formate arbeiten mit derselben Struktur des Wechselns zwischen jeweils zwei Geschichten und Menschen, die in ihm präsentiert werden (ihre Welten berühren sich nie), alle Formate gebrauchen penetrant Recaps am Ende eines jeden längeren Segments nach dem Wechsel oder nach den Werbepausen, so dass sich mir, auch ohne es zu notieren, eingeprägt hat, dass der der 66-jährige Rentner Lothar 430 Euro Rente bekommt und ihm nach Abzug aller fixen Kosten 100 Euro zum Leben zur Verfügung stehen, was er damit aufbessert, ein Straßenmagazin zu verkaufen, bei dem ihm bei 20 Euro Umsatz am Tag 7 Euro zukommen, was bei 30 Tagen im Monat immerhin 210 Euro zusätzlich bringt (wenn alles gut läuft, aber tatsächlich sehe ich Lothar nur traurig bei Regen auf Supermarktparkplätzen rumstehen und kein einziges dieser Magazine verkaufen). Es sind natürlich Programme, die unheimlich gut in den Programmfluss reinpassen und sich für flüchtige Rezeptionen eignen, aber diese Überformatierung dieser Formate verdeckt den Blick darauf, dass es nicht alle Strategien des Reality TVs anwendet, dass zum Beispiel Emotionalisierung durch exzessive Wiederholungen von Einstellungen in Montagesequenzen und Dehnungen von Momenten nicht angewendet wird. Und es fällt schon länger auf, dass RTL2 seine Sendepolitik etwas geändert hat, oder dass RTL2 durch die Dominanz dokumentarischer Formate ein Umfeld geschaffen hat, in dem sich diese Formate unterscheiden können und müssen, was auch Chancen für differenzierte Blicke auf die Wirklichkeit bietet, oder vielleicht tatsächlich bewusste Entscheidungen der Redakteurinnen und Redakteure des Programmes sind. In diesen Formaten, die auf ein bestimmtes Milieu beschränkt scheinen – nicht jeder lässt sich beim Gebären von Kindern und beim glücklichen Flennen bei der Freude über ihre Ankunft gerne zusehen, was bedeutet, dass auch die Welt von Babystation nicht unbedingt dem Lebensumfeld aller Zuschauenden entspricht – spielt das Dokumentarische tatsächlich eine Rolle. Sowohl Babystation als auch Teeniemütter bieten (für Menschen, die gerade Kinder bekommen  oder bekommen haben) sehr gute und genaue Informationen über Details der jeweiligen Thematiken, sehr medizinisch und gelegentlich auch etwas eklig in Babystation (Narben von früheren Kaiserschnitten, die bei einem neuerlichen Kaiserschnitt rausgeschnitten werden, Bauchgeschwulste, die sich ebenfalls durch Kaiserschnitte bilden und spätere Geburten problematisch machen – Geburten sind nun mal auch sehr schmutzige und eklige Angelegenheiten). Aber sie sind auch hilfreich und interessant für viele Menschen und es fällt auf, dass RTL2 in vielen Formaten diese Informationen unterbringt und somit tatsächlich so etwas wie Lebenshilfe anbietet, während es bei vielen anderen Formaten eher wie ein vorgeschobener Grund gewirkt hat, darauf zu verweisen, dass so etwas wie Supernanny auch hilfreich sein könnte. Diese Informationsangebote werden zum Beispiel auch dadurch deutlich, dass die Teeniemütter in ihren Formaten mit tatsächlichen Instanzen der Beratung sprechen und nicht mit solchen, die wie die Supernanny und anderen Experten vom Fernsehen selbst eingesetzt werden. Dass die Formate tatsächlich dokumentarischen Charakter haben und sich auf die Wirklichkeit ausrichten, zeigt sich auch in einer gewissen Ratlosigkeit, die bei ihnen zum Ausdruck kommt. Der Konflikt zwischen Angelina und Joel scheint ausweglos zu sein und macht traurig. Sie will, weil sie so jung und überfordert ist, in ein Mutter-Kind-Heim, das es ihm nur für zwei Stunden am Tag erlauben würde, seine bald geborene Tochter, die Sophia Jolin heißen soll, zu sehen. Er will sie bei seinen Eltern in der Kleinstadt Schernbeck unterbringen und hat dafür schon ein Zimmer renoviert und zum Kinderzimmer umgebaut. Am Ende der Folge haben sie sich nicht geeinigt, was natürlich zu einem kleinen Cliffhanger-Moment wird – aber dieser Konflikt wird nicht überdramatisiert, eher festgestellt.

Etwas ähnliches findet sich auch in dem potenziell spekulativeren und problematischeren Format Armes Deutschland, das mit seinem Untertitel Stempeln oder Abrackern bereits die Tendenz aufweist, Menschen in gute und schlechte Sozialhilfeempfänger einzuteilen und diese Gegenüberstellung tatsächlich durch das Alternieren zwischen dem wackeren und fleißigen Rentner Lothar und der sehr faulen, naiven und trotzigen Vanessa (16), die nicht einsieht, warum sie arbeiten soll, schließlich habe sie schon mit 14 bei einem abgebrochenen Praktikum schon eine Woche gearbeitet und wisse, wovon sie redet, überbetont. Aber auch hier spielt der wirkliche Blick auf die Wirklichkeit eine Rolle. Die uns auch durch die Recaps um die Ohren gehauenen Zahlen über Lothars Lebensverhältnisse geben auch zum Ausdruck, dass ein Mensch in seiner Lage ständig rechnen muss, um irgendwie über die Runde zu kommen, auch wenn Lothar deutlich macht, dass Arbeit für ihn mehr bedeutet als nur etwas mehr Geld zu haben. Seine tragische Geschichte über den Verlust seiner Frau und Tochter trägt natürlich dazu bei, dass wir eine emotionale Verbindung zu ihm aufbauen, aber auch hier verzichtet die Präsentation darauf, das übermäßig zu inszenieren und von uns Tränen zu erpressen. Vanessa ist tatsächlich das komplette Gegenteil. Ihr größtes Problem ist, dass sie es noch nicht mal schafft, den Antrag auszufüllen, was auch damit zu tun hat, dass sie Hausverbot bei der Arge hat, weil sie dort randaliert hat. Vanessa holt sich zwar Hilfe bei einem guten Bekannten, Achim von M. aus dem RTL2 Format Köln 50667, der auf die Wichtigkeit von Arbeit und Selbstverantwortung verweist, aber durch sein breites Kölsch nicht unbedingt Eindruck zu machen scheint auf die konfuse Vanessa. Vanessa, die nur ein Abschlusszeugnis für die 8. Klasse vorzuweisen hat und die ihr letztes Geld für Sonnenbank und Zigaretten ausgibt, kann auch nicht erklären, was sie will und wie alles gekommen ist: „Ich hab halt keinen Abschluss gemacht, bin lieber rumgelaufen.“, aber die traurigen Verhältnisse, denen sie entstammt, geben eine Ahnung davon, was Menschen so antriebslos erscheinen lässt. Die Zuschauenden können auch zu diesem eigenartigen, brutalen, trotzigen und unverschämten Teenager Gefühle aufbauen, weil das Format sie eher zeigt als bloß- und ausstellt. Auch hier passt die Offenheit und Ratlosigkeit zu einem dokumentarischen Impetus des Formats, das es über Unterschichtenfernsehen (das es in Wirklichkeit ja gar nicht gibt) heraushebt. Vanessa bekommt zu allem Überfluss wegen Handyschulden noch einen Haftstrafe und taucht unter. Das Format hat keine Bilder mehr von ihr, als es uns diese Informationen weitergibt und behilft sich mit älteren Einstellungen von ihr,  in denen sie unbeschwert für die Kameras posiert – so als sei sie bereits zum Geist geworden, eine verlorene Seele, die hoffentlich doch noch irgendwann ihren Platz in der Welt finden wird.

Ich würde ihr nicht das Beste wünschen oder mich nicht für sie interessieren, wenn es nicht den dokumentarischen Charakter dieser Formate geben würde. Es ist auch interessant, auf die Profile der Produktionsfirmen zu blicken, die hinter den Formaten stehen. Good Times, die Armes Deutschland produziert, steht auch für Formate wie Trödeltrupp oder Hilfe, ich bin Shoppingsüchtig; Imago TV, die Produktionsfirma von Babystation, produzieren zwar auch typische Formate wie Mietprellern auf der Spur, aber auch ein Format, das sich mit dem Zusammenleben von jungen Berlinern und Flüchtlingen beschäftigt. Interessant ist vor allem die Firma saga media, die neben Teeniemütter und ähnlichen Doku-Serien auch ‚ernste’ Dokumentationen über Depression oder die Weltgesundheitsorganisation gemacht hat. Die Formate sind unterschiedlich und zumindest bei saga media wird klar, dass ein dokumentarisches ‚Ethos‘ in ihren Formaten zu finden ist und auf andere ausstrahlt. Die Formate mögen zum Teil bloßstellend und spekulativ sein, aber sie sind auf jeden Fall differenziert und verdienen nicht einen undifferenzierten Blick auf RTL2. Fernsehen wird die Eigenschaft zugeschrieben, als Fenster zur Welt zu fungieren, Fernsehen wird aber auch vorgeworfen, Wirklichkeit zu konstruieren. In diesen Formaten begegnen wir aber tatsächlich immer wieder auch der Welt, öffnet sich im heftigen Getriebe der Einstellungswechsel und des Alternierens zwischen den Figuren doch gelegentlich ein Blick auf Wirklichkeiten, die viele von uns nicht oder nicht mehr kennen. Und sie zu kennen, ist bei aller Unterhaltung und Emotionen, die mit ihrem Zeigen verbunden ist, nicht das Falscheste.

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