TV Kultur und Kritik
ist im Rahmen einer Übung im Fach Medienwissenschaft an der Universität Regensburg entstanden. Der Blog versammelt Kritiken zu den unterschiedlichsten Facetten der Fernsehkultur, die von arte (Breaking Bad) bis RTLII (Die Geissens) reicht. Ziel ist es eine Kritik zu etablieren, die dem Wesen, der Rezeption und der Faszination für das Format gerecht wird. Wir sind offen für Beiträge, die die Auseinandersetzung mit dem Fernsehen erweitern.

Dienstag, 5. Mai 2020

Corona King. Fünf Gründe, den Netflix Dokuserien-Blockbuster Tiger King nicht zu schauen

von Herbert Schwaab 

Diese Krise kennt viele Verlierer und nur zwei Gewinner: Netflix und Amazon, diese Hofliferanten einer Welt der Eingeschlossenen und überforderten Familien. Genau in dieser Zeit fällt die Veröffentlichung der Netflix Dokuserie Tiger King: Murder, Mayhem and Madness, und der Virus wird oft als Grund genannt, warum dieses Serie zu einem so großen Erfolg wurde, mit etwa 37 Millionen Zuschauer*innen weltweit. Es gibt einen Hype um Tiger King, von dem ich nach kurzer Zeit, aber nicht als erster auch erfasst wurde. Der Grund dafür ist einfach. Die Doku-Serie von Eric Goode und Rebecca Chaiklin, die über einige Jahre das Leben von Joe Exotic und seinem kommerziellen Raubtierzoo in Oklahoma dokumentieren, bietet einiges: die bizarre Welt der Privatzoos und der Fans und Besitzer*innen von exotischen Tieren und Raubtieren; Einblicke in die unglaublichen Abgründe der ländlichen, abgehängten Redneck-USA, vor allem Einblicke in die zahnlosen Meth-Gesichter der Mitarbeiter von Joe Exotic; Dokumentationen von Rassismus und Sexismus, Waffenwahn, der einem der zwei Ehemänner von Joe Exotic auch das Leben kostet; immer wieder Dokumentationen der eigenartigen Beziehung von Mensch und Tigern und Löwen, mit denen hemmungslos gekuschelt wird, die Menschen auf Autofahrten auf dem Beifahrersitz begleiten, als kleine kuschelige Pelztiere in Hotelzimmer in Las Vegas geschmuggelt werden und als Hauptattraktion bei den Tierschauen in den privaten Zoos eingesetzt werden; sie zeigt uns aber auch ein brutales Geschäft von Menschen, die weitaus gefährlicher sind, als Raubtieren je sein könnten, die skrupellos eine hemmungslose Aufzucht von kleinen Tigerbabys betreiben und die die nicht mehr verwertbaren, ausgewachsenen Tiger nach 6 Monaten töten, wenn sie die Kapazitäten dieser chaotisch geführten Zoos überfordern; wir lernen arrogante Raubtierbesitzer wie Doc Antle kennen, der als geborener Showman nicht nur einigermaßen erfolgreich und geschickt einen Privatzoo, sondern auch eine sektenartige Kommune ergebener Frauen anführt. Aber bei allem ist und bleibt die Hauptattraktion Joe Exotic, der zwar offen schwul mit zwei Ehemännern lebt, der aber dennoch durch und durch sexistisch, rassistisch, korrupt, sadistisch und von sich selbst besessen ist. Deswegen strebt er eine Karriere als Countrysänger (von nicht selbst gesungenen Songs) an, lässt sich auf eine kostspielige Kampagne zu einer Gouverneurswahl ein und führt eine verhängnisvolle Fehde mit der Tierschützerin Carole Baskin, die aber selbst sehr erfolgreich einen eigenen Privatzoo führt, der zum Schutz von Großkatzen gegründet worden sein soll. 
Was wir hier sehen, liefert uns die Gründe dafür, warum Trump trotz seiner Ignoranz, seiner Gier, seiner Frauenverachtung und seinem Rassismus so beliebt ist, weil es Wähler gibt, die noch sexistischer, frauenverachtender, ignoranter und gieriger sind. Diese faszinierende und abstoßende Welt wird uns in einer atemlos geschnittenen und verdichteten dokumentarischen Erzählung gezeigt, die bei den Großkatzen und ihren bizarren Besitzern beginnt, die aber zunehmend bei Betrug, Gewalt und Mord landet. Es macht unglaublich Spaß, diese Serie zu schauen und sich immer mehr und mehr über die unglaublichen Ereignisse und Handlungen zu wundern, aber auch über sie zu erschrecken, wenn etwa einer Sexpuppe, die Carole Baskin darstellen soll, vor der laufenden Kamera einer von Joe Exotic produzierten Internetfernsehshows in den Kopf geschossen wird. Das wird in der Serie verteilt über mehrere Episoden  etwa viermal gezeigt. Der fassungslos aufgesperrte Mund ist ein steter Begleiter dieser Dokuserie.
Da ich aber misstrauisch jedem Hype gegenüber bin, ich den Erfolg von Netflix und seiner Verdrängung von Fernsehen und Kino nicht unkritisch sehe, ich nicht das Gefühl habe, dass meine Freunde und Bekannte, die alle nur noch Netflixserien schauen, irgendein Bewusstsein dafür haben, wie Corona das Entstehen eines audiovisuellen Monopols begünstigt, habe ich keine Lust diese Unterhaltsamkeit der Dokuserie einfach so hinzunehmen und mein Vergnügen an ihr nur harmlos zu finden. Daher werde ich hier eine Reihe von Gründen liefern, warum die Serie und ihr Erfolg problematisch sind: 
1. Was ist tatsächlich ein Dokuserien-Blockbuster? Die Netflix After-Show Talkshow-Episode, in der ein Schauspieler und Comedian Anfang April über Videotelefonie einige der Figuren aus Tiger King interviewt (die sich alle erstaunlich gewandelt haben und sich endlich Zahnersatz leisten können), spricht von dem großartigen Erfolg der Serie und befragt die Beteiligten nach den Folgen dieses Serienruhms, dem sie erst seit wenigen Wochen ausgesetzt waren. Diese Show ist nicht nur interessant als Dokument der Coronakrise und den Möglichkeiten, über Videotelefonie Talkshowformate mit Eingeschlossenen zu machen, sondern auch als Dokument eines Hypes, das den Eindruck vermittelt, die ganze Welt kennt Joe Exotic, sogar Donald Trump, der sich bekanntlich für die Begnadigung seines potentiellen Stammwählers eingesetzt hat. Aber ich bin mir nicht sicher, ob die ganze Welt tatsächlich Joe Exotic kennt. Netflix macht unendlich viele Angebote für viele Menschen auf der Welt, aber seine Fähigkeiten, kulturelle Ereignisse zu kreieren, sind eher begrenzt, deswegen werden die wenigen Serien, die ansatzweise gesellschaftliche Relevanz haben – Making a Murderer, Thirteen Reasons Why, When they See Us – auch intensiv von Netflix selbst zur Eigenwerbung thematisiert. Die Serie Dallas allerdings hatte in den 1970er und 1980er Jahren allein in den USA wöchentlich mehr Zuschauende als diese Serie weltweit hat, und von ihr gibt es mehr als 300 Episoden, während sich die 37 Millionen Zuschauenden von Tiger King nur 7 Episoden sehen konnten. Wir können nicht davon ausgehen, dass wir in ein paar Jahren noch von Tiger King sprechen werden so wie sich viele noch an Dallas als kulturelles Phänomen erinnern können. Netflixserien sind ein schnelllebiges Geschäft, weil die Plattform davon lebt, einen Hype nach dem anderen zu erzeugen und die Zuschauenden auf der Plattform zu halten: Sie sollen sich nicht an eine Serie erinnern, sondern schon die nächste anschauen und damit in einer permanenten Streaming-Gegenwart gefangen gehalten werden, wie die Raubtiere in ihren billigen Verschlägen. 
2. Die Dokumentation verliert schon relativ früh ihren Fokus auf die Tiere und die Menschen, die diese Tiere besitzen wollen. Während der Kosmos an abgehängten Trailermenschen, die in dem Zoo angestellt sind, sich um die Tiere kümmern und eine besondere Beziehung zu ihnen zu haben scheinen (die Joe Exotic nicht hat), am Anfang eine wichtige Rolle spielt, geraten die Tiere und diese Menschen immer mehr in den Hintergrund. Das hat zwar viel mit der kriminellen Energie von Joe Exotic und seinen wahnsinnigen Nebenprojekten wie der Gouverneurswahl und der Fehde mit Carole Baskin zu tun. Es ist aber trotzdem schade, dass die Tiere mehr und mehr aus der Doku verdrängt werden und erst am Ende wieder etwas stärker in den Fokus gerückt werden. 
3. Ist Tiger King tatsächlich eine Dokuserie oder nicht doch Reality TV? Dies soll keine wertende Unterscheidung sein, denn auch Reality TV kann für uns die Funktion übernehmen, die Wirklichkeit zu enthüllen und sie leistet noch viel mehr in ihrem Blick auf die Gesellschaft. Allerdings ist es für eine Dokumentation immer eine eherne Regel, dass der neutrale Blick einer Dokumentation nicht davon korrumpiert werden darf, dass die dokumentierten Objekte davon finanziell profitieren könnten und sich deswegen durch ihre Taten zu geeigneteren Objekten für die Dokumentation machen. Es wird hier und in anderen Formaten kolportiert, dass die Gezeigten Geld bekommen haben, was eine gängige Praxis von Reality TV ist. Tiger King ist aber nicht eindeutig Reality TV und beansprucht für sich noch immer, dem Genre der Dokuserie zugeordnet zu werden. Dass steht  im Widerspruch zu einer Inszenierung, die zu geschickt aus dem Material spannende Geschichten von Mord, Betrug, Tod, Gewalt und maßloser Selbstüberschätzung, aber auch purer Verzweiflung zu stricken versteht. 
4. Nach einer kurzen Zeit hatte ich das Gefühl, eine Mockumentary zu sehen, eine parodistische Fake-Doku im Stil von This is Spinal Tap. In einem Artikel der Zeitschrift Indiewire weist Eric Goode als einem der Macher dieser Serie darauf hin, dass ihn das, was er beim Drehen gesehen habe, tatsächlich sehr stark an Best in Show, eine berühmte Mockumentary über Hundebesitzer und eine Hundeshow, erinnert habe (https://www.indiewire.com/2020/03/tiger-king-directors-netflix-interview-1202220039/). Dort ist auch zu lesen, dass für die Erstellung der sieben Episoden sieben Cutter und Cutterinnen angestellt waren. Netflix Dokuserien wie Making a Murderer zeichnen sich dadurch aus, dass das Material kunstvoll und hochgradig organisiert so zusammengeschnitten ist, dass sich daraus spannenden Geschichten ergeben, aber diese Art der Bearbeitung des Materials erweckt auch immer den Eindruck, Geschichten zu finden, wo vorher keine Geschichten zu waren: Es wirkt etwas zu konstruiert und zu organisiert, was zum Beispiel in einem sehr freien Umgang mit der Chronologie der Ereignisse Ausdruck findet, die konsequent dramaturgischen Erwägungen untergeordnet werden. Daher habe ich am Ende von Tiger King komplett den Überblick verloren, wann etwas geschehen ist und in welchem Stadium der Entwicklung der Geschichte wir uns befinden. Diese Dokumentation, wie viele ähnliche, semi-anspruchsvolle Dokuserien, macht nur so, als wolle sie die Welt abbilden. Eigentlich schreiben Netflixserien ihren bürgerlichen Zuschauenden Entschuldigungen dafür, Reality TV zu schauen. 
5. Diese Symptome sind Ausdruck eines Mangels an identifizierbarer Einstellung dieser und anderer dokumentarischer Serie gegenüber ihrem Material. Es fehlt Tiger King eine ethische, kritische Einstellung, die eigentlich im Milieu des nicht besonders ertragreichen Geschäfts des Dokumentarfilms immer vorzufinden war. Dokumentarfilmer*innen sind Idealisten, die mit ihren Filmen und Serien eigentlich immer auch ein Ziel im Blick haben, die Gesellschaft zu zeigen, zu kritisieren und zu verändern. Welche Ziele Eric Goode und Rebecca Chaiklin haben, weiß ich nicht. Ich kann auch nichts über sie erfahren, außer dass Eric Goode ein Tierrechtsaktivist ist, was aber in der Doku nicht unbedingt deutlich wird. Das ließe sich als Neutralität eines dokumentarischen Blicks entschuldigen, deren Ziel es ist, die Rolle der Bewertung den Zuschauenden zu überlassen. Das Bewerten wird von diesen Zuschauenden auch gerne angenommen, sieht man sich an, wie die Diskussion über die Figuren auch zu einem Gegenstand eines Internethypes wird, den Netflix mit der Bonusfolge einer Corona-Talkshow Anfang April noch befördert hat. Aber diese Neutralität ist mir zu wenig. Dokumentarist*innen haben die Möglichkeit, selbst präsent zu sein und zu sagen, was sie interessiert. Eric Goode ist tatsächlich in einigen Szenen zu sehen und ganz am Anfang finden sich auch Momente, in denen er relativ zynisch und selbstreflexiv die dokumentarische Konstruktion und Inszenierung kommentiert. Aber seine Präsenz ist so zufällig und selten, dass sich daraus keine Haltung ableiten lässt und die Dokumentation dadurch eher umso inkonsequenter wirkt. Am Ende mag zwar ein Effekt der Dokumentation sein, dass problematische Aspekte der Privathaltung von Raubtieren und die Fließbandproduktion von Tigerbabys deutlich werden, aber es drängt sich nicht auf, dass das ein Anliegen dieser Dokumentation ist. 
Diese fünf Gründe, mit denen ich mir nachträglich mein Vergnügen an Tiger King verderbe (Medienwissenschaftler*innen machen so etwas), sollen ein kleine Anregung dafür sein, diese Serie nicht zu schauen, bei dem Hype nicht mitzumachen, oder wenigstens darüber nachzudenken, wenn sie doch geschaut wird, was Dokuserien eigentlich sind und sein sollten. Nur ein paar Tage nach Tiger King sahen wir uns zuhause eine Episode von Wild, Wild, Country an, eine Serie, die die Verbrechen und Intrigen um den Umzug der Bhagwan Sekte nach Oregon in den 1980er Jahren dokumentiert. Wir sind zunächst nicht drangeblieben, weil sie uns verglichen mit dem Stakkato-Schnitten von Tiger King zu langsam vorkam. Hier merkt man, wie stark wir von audiovisuellen Erzählungen in unseren Wahrnehmungen genormt und an neue Standards der Gestaltung gewöhnt werden. Netflix ist das MTV der Dokumentation. Gleichzeitig habe ich große Lust, mir diese ‚andere‘ Serie, die ebenfalls von Netflix produziert wurde, weiter anzuschauen, gerade weil sie so langsam und damit auch viel analytischer ist und sie ihre Narrative viel sorgfältiger und hintergründiger entfaltet und ich dadurch auch etwas über diese Zeit und eine Kultur erfahre, in der die Suche nach Erleuchtung, Verführung und sexuelle Ausbeutung eng miteinander verknüpft sein konnte. Vielleicht dauert ja Corona noch lange genug, und ich werde mir diese andere Beispiel einer Netflixserie, die dokumentarisches Ethos zu besitzen scheint, noch anschauen können.

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