TV Kultur und Kritik
ist im Rahmen einer Übung im Fach Medienwissenschaft an der Universität Regensburg entstanden. Der Blog versammelt Kritiken zu den unterschiedlichsten Facetten der Fernsehkultur, die von arte (Breaking Bad) bis RTLII (Die Geissens) reicht. Ziel ist es eine Kritik zu etablieren, die dem Wesen, der Rezeption und der Faszination für das Format gerecht wird. Wir sind offen für Beiträge, die die Auseinandersetzung mit dem Fernsehen erweitern.

Donnerstag, 22. August 2019

Die Ich-Ich-Ich-Reporter: Rabiat – Arsch hoch, Deutschland! (ARD, 13.5.2019)

von Herbert Schwaab

Bilder einer nächtlichen Stadt. Die Reporterin Anne Thiele folgt einer jungen Mutter, Kerstin, die am Silvestermorgen Flaschen sammeln geht. Die pulsierenden, wackligen Bilder werden mit vielen Schritten aneinandergereiht, nicht zufällig, sondern kunstvoll und schick und passend für Fernsehen und Smartphone komponiert. Die Reporterin unterrichtet uns darüber, was sie gerade macht, kommentiert dabei, dass so früh kein Kameramann zu bekommen war, der arbeiten wollte, weswegen sie mit dem Handy filmt. Komisch nur, dass auch Bilder zu sehen sind, die nicht von ihr stammen, sondern sie und die junge Mutter etwas entfernt von hinten zeigen. Sie kommentiert, dass die junge Frau mit dem Flaschensammeln ihre Einkünfte aus ihrer Arbeit und Hartz4 aufstockt, um für ihre 2 Kinder und 5 Tiere zu sorgen. Sie sagt das mit einer ruhigen, unaufgeregten, aber hochgradig emphatischen Stimme. Dann zeigt sie Bilder aus ihrem eigenen Arbeitsalltag, aus dem Büro, von Zuhause im Homeoffice mit einer Tasse Kaffee in der Hand und im Schnittraum, um zu zeigen, dass auch sie arbeitet. Sie hält sogar intime, auf dem Handy gespeicherte Fotos von ihrem ersten Job als Babysitter in die Kamera, um ihr Arbeitsleben umfassend zu dokumentieren, aber auch, um sich für uns fast völlig zu entblößen und deutlich zu machen, dass sie alles gibt. Es gehe ihr darum, wie sie in die mittlerweile ganz nah gerückte Kamera spricht, zu erkunden, ob sie sich die Sicherheit, die sie mit ihrer Arbeit und ihrem Elternhaus erworben hat, tatsächlich verdient hat und ob Fleiß allein ausreicht, so ein sicheres Leben zu führen. Die Antwort auf diese Frage wird sie in die Welt der Hartz4 Empfänger führen.
Sich selbst als Dokumentierende in Fernsehformaten zu thematisieren und auch ein bisschen in den Mittelpunkt zu stellen, ist mittlerweile ein bestimmendes Genremerkmal einer neuen Art von Dokumentation, die es seit etwa 10 Jahren gibt und die mit Formaten wie Wild Germany für Sender wie ZDFneo etabliert wurde. Die Reportage Arsch hoch, Deutschland! über Hartz4 Empfänger ist Teil des seit April 2018 laufenden Dokuformats Rabiat, das von Radio Bremen für die ARD produziert wird, Montags um 22:45 läuft und das auf der Seite der ARD folgendermaßen beworben wird:
„Für Rabiat […] wollen wir Geschichten erzählen, die Emotionen auslösen […], die Haltung haben und sie direkt in die Kamera sprechen. Wir berichten nicht nur, vor allem erleben wir."
Interessant ist ein weiterer Satz der Beschreibung: „Der Fokus richtet sich auf die teilnehmende Beobachtung, das Kennenlernen, das Erleben.“ Tatsächlich ist das bestimmende Merkmal dieser Reportagen, dass sich die Dokumentierenden immer sehr, sehr wichtig nehmen, sich ins Bild und auf die Tonspur drängen, ständig ihre eigene Befindlichkeit thematisieren, erfahrungs- und erlebnishungrig erscheinen, um dann ihre Trauer, ihren Ekel, ihre Faszination und Irritation thematisieren zu können. Deswegen fallen so häufig Sätze wie: „Ich will selbst wissen, wie sich das anfühlt“ oder werden Informationen über Kindheit, Jugend und Familie der Reporterinnen und Reporter ungefragt mitgeteilt. Manuel Möglich, der bereits bei Wild Germany dabei war, ist ein Meister dieses extremen Reportagestils und er hat von Dark Room über Satanskult bis zu Drogenkonsum schon sehr viel mitgemacht. Auch Anne Thiele macht viel mit und versucht beispielsweise in einer anderen Ausgabe dieser Magazinreihe Drogen zu kaufen und spricht dann ganz erschrocken und aufgeregt in die Kamera, dass ihr das ja tatsächlich beinahe gelungen sei.
Ich muss zugeben, dass mich dieser Reportage-stil wegen des Hangs zu einer gewissen Eitelkeit der Beteiligten hochgradig nervt. Der Wunsch, selbst Erfahrungen für uns als Zuschauende zu machen und uns damit Dinge nahezubringen, wirkt häufig aufgesetzt, die Formate versuchen penetrant eine persönliche Perspektive ins Spiel zu bringen, sie erinnern uns immer wieder ungefragt daran, was sie gerade machen: Das soll spontan wirken und uns mitnehmen, aber es wirkt häufig inszeniert und aufgesetzt und alles andere als spontan, eher etwas egozentrisch und eitel, so dass der Blick auf das, was dokumentiert werden soll, manchmal verloren geht. Dass diese Formate auch aus dem Umfeld von Vice stammen, zeigt sich in einer schicken Optik, die mit allen Mitteln versucht, ansprechend, cool und internetkompatibel zu sein.
Anne Thiele schafft es aber, auf diese Weise tatsächlich eine sehr einfühlsame Reportage zu machen. Sie begleitet nicht nur verständnisvoll den Alltag von Kerstin, auf der Straße und in ihrer Wohnung, sondern besucht an verschiedenen Orten andere Hartz 4 Empfänger, die traurig, aber geduldig ihr Schicksal ertragen, die zum Teil arbeiten und aufstocken, oder gerne arbeiten würden. Sie bringt Kuchen mit, wenn sie jemand besucht, und thematisiert dann vor der Kamera, dass sie mit zwei Stück Kuchen schon zwei Drittel des Tagessatzes für Essen für einen Hartz4 Empfänger ausgegeben hat. Sie provoziert nicht, versucht diese Menschen definitiv nicht zu entblößen. Sie begleitet sie tatsächlich in ihre Welten, lässt sich die Spielzeugeisenbahn zeigen oder geht mit ihnen Würstchen essen (das können sie sich einmal im Monat leisten). Und auch wenn einer von diesen an den Rand gedrängten, von den Behörden malträtierten Menschen mal ganz leise und ein klein bisschen gegen Migranten wettert, so rückt sie das etwas gerade mit dem Hinweis, dass Asylbewerber nach 15 Monaten in Deutschland einen noch geringeren Satz als Hartz4 Empfänger bekommen. Sie hätte vielleicht gerne mehr provoziert, aber auch nach wochenlanger Suche habe sie, wie sie selbst zugibt, keinen Menschen gefunden, der vor der Kamera offen und stolz vom freiwilligen ‚Hartzen‘ sprechen wollte. In der Tat ist diese Reportage ein gutes Korrektiv zu Formaten wie Hartz aber Herzlich, dem es zwar auch immer wieder gelingt, uns die Lebenswelt dieser Menschen nahezubringen (und das ist ja schon sehr viel), die aber trotzdem daran beteiligt sind, ein negatives Bild von Harz4 Empfänger zu verfestigen. Anne Thiele macht etwas anderes. Spätestens wenn sie am Ende auf einer Tour mit Kerstin Bilder von Obdachlosen zeigt und die Gefahr, dass die permanente Sanktionsmaßnahmen viele Empfänger dazu bringen, ganz aus dem System zu fallen und auf der Straße zu landen, mit den Worten kommentiert: „In Berlin sind diese Bilder alltäglich und es macht mich jeden Tag von neuem fertig, diese Bilder zu sehen.“ hat sie meine Abneigung gegen diese Art der Selbstthematisierung ein wenig wegtherapiert. Es wird deutlich, dass das Format tatsächlich dem selbst gestellten Anspruch gerecht wird, durch Erlebensjournalismus auch Stereotype in Frage zu stellen.
Allerdings bleibt eine Kritik an diesen Formaten. Sie gebrauchen in der Selbstbeschreibung den Begriff der teilnehmenden Beobachtung. Dieser Begriff verweist auf Theorien und Konzepte des ethnografisch geprägten Dokumentarfilms, die unter anderem in der Bewegung des cinéma verité in den 1950er Jahren begründet wurden, als Kritik an der vorgespielten, objektiven Perspektive, die der klassische Dokumentarfilm einnimmt, als Projekt, dass die Dokumentierenden in eine völlig fremde Welt einführt, die sie selbst verändert, was diese auch spürbar werden lassen. Es spielt eine wichtige Rolle für unsere Wahrnehmung von Dokumentationen, ob die Dokumentierenden im Bild anwesend sind oder konsequent von außen operieren. Aber diese neuen Reportagen vermitteln mir häufig das Gefühl, dieser Beteiligung nicht wirklich Ausdruck zu verleihen, sondern als Stilmittel auf schematische Weise zu inkorporieren, eher in Anlehnung an die performativen Praxen der Selbstdarstellung, die wir von YouTube, Facebook und Instagram gewöhnt sind, und nicht an Dokumentarfilme und ihrem hochgradig politischen Milieu, dem sie entstammen. Der Begriff der teilnehmenden Beobachtung ist hier etwas hochgegriffen, es handelt sich eher um Reportagen, die unserer Medienkultur sehr gut entsprechen, weil sie genauso gut ins Fernsehens, wie ins Internet passen.

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