TV Kultur und Kritik
ist im Rahmen einer Übung im Fach Medienwissenschaft an der Universität Regensburg entstanden. Der Blog versammelt Kritiken zu den unterschiedlichsten Facetten der Fernsehkultur, die von arte (Breaking Bad) bis RTLII (Die Geissens) reicht. Ziel ist es eine Kritik zu etablieren, die dem Wesen, der Rezeption und der Faszination für das Format gerecht wird. Wir sind offen für Beiträge, die die Auseinandersetzung mit dem Fernsehen erweitern.

Montag, 6. Dezember 2010

Der Wutmacher: Sarrazin als Volks-Sprecher?

von Soufiane Mouncir

Ganz Deutschland spricht derzeit über Thilo Sarrazins umstrittenes Buch „ Deutschland schafft sich ab“ und seine teils sehr diskriminierenden Ansichten im deutschen Fernsehen. Aber schaut denn eigentlich ganz Deutschland spät abends irgendwelche Polit-Sendungen?


Am Dienstag 31. August 2010 gegen 23 Uhr jedenfalls startete in N-TV das Programm „Das Duell“, um nur ein winziges Beispiel für die hohe Frequenz dieser Polit-Night-Talks zu geben. Der Moderator Heiner Bremer diskutiert hier mit der Sozialwissenschaftlerin und Frauenrechtlerin Necla Kelek und dem Bundestagsabgeordneten der Grünen Hans-Christian Ströbele zum Thema „Der Wutmacher: Sarrazin als Volks-Sprecher?“. Ob diese aktuellen hitzigen Debatten von der eigentlichen Zielgruppe, der Betroffenen und denen, die etwas ändern wollen, zu dieser Sendezeit überhaupt wahrgenommen werden, müsste an anderer Stelle analysiert werden. Thilo Sarrazin beschreibt mit seiner profunden Erfahrung aus Politik und Verwaltung die Folgen, die sich für Deutschlands Zukunft aus der Kombination von Geburtenrückgang, problematischer Zuwanderung und wachsender Unterschicht ergeben. Er will sich nicht damit abfinden, dass Deutschland nicht nur älter und kleiner, sondern auch dümmer und abhängiger von staatlichen Zahlungen wird. Sarrazin provoziert in seinem kürzlich erschienenen Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ mit seiner Besorgnis, Muslime, insbesondere Türken und Araber eroberten schleichend die Bundesrepublik durch Einwanderung und den daraus resultierenden demographischen Veränderungen. Die Migranten bekämen mehr Kinder als Deutsche und durch „ eine unterschiedliche Vermehrung von Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlicher Intelligenz“ werde sich das Bildungsniveau verschlechtern. Der 65 Jährige, der wegen seiner Äußerungen über Einwanderer und genetische Eigenheiten von Volksgruppen im Kreuzfeuer der Kritik steht, wurde am Dienstag zu einem Gespräch nach Frankfurt zitiert. Die Rufe nach Sarrazins Entlassung aus dem Vorstand der Bundesbank wurden am Dienstag lauter. Die Integrationsbeauftragte Maria Böhmer(CDU) hält den Ökonom für „ nicht mehr tragbar“, wie sie den „Ruhr Nachrichten“ sagte. „ Wir haben durchaus auch viele Migranten muslimischen Glaubens, die es zu sehr guten Schulergebnissen bringen.“ Der Zentralrat der Juden in Deutschland warf der Bundesbank ein zu nachsichtiges Vorgehen vor. In der Debatte bei N-TV führte Bremer das Duell mit ein paar Zitaten von Thilo Sarrazin wie z.B. „ Deutschland wurde von den Türken und Muslime erobert und in einigen Jahren gibt es keine Deutschen mehr, sondern wird Deutschland muslimisch türkisch“. Die Diskussion zwischen Kelek und Ströbele war auffallend auf den Punkt gebracht. Beide haben die einschlägigen Sarrazin Zitate präzise analysiert wiedergegeben. Der Abgeordnete erläuterte das Thema Integration in Deutschland. Er schilderte die fälschliche Annahme, dass die Gastarbeiter ein paar Jahre hier blieben und nach spätestens fünf oder zehn Jahren in ihr Heimatland zurückkehrten, deswegen wurde früher so wenig Interesse auf Integration und Sprache gelegt. Desweiteren beschrieb Kelek Sarrazins Zitat über die „Dummheit der Einwanderer“. Sie meinte, dass Medien über das Thema Bildung mehr diskutieren wollen und gab Sarrazin in seinem Standpunkt völlig Recht. Auch kam sie mit Sarrazins Meinung überein, dass die Unterschicht und insbesondere konfessionelle Religionsgemeinschaften mehr Kinder als die Intellektuellen und Akademiker bekämen. Beide Studiogäste kamen überein, dass die Provokation von Sarrazin völlig falsch und inakzeptabel sei; eine Kürzung der Sozialleistungen als Sanktion, wie sie Sarrazin fordert, führe keinesfalls zu einer Verminderung der Zahl der Muslimischen Einwanderer. Ströbele sieht außerdem ein solches Zwangssystem als unmenschlich und nicht akzeptabel. Weiterhin empfindet er Sarrazins Provokation nicht als Herausforderung sondern schlichtweg als falsch. Es blieb schließlich die Hoffnung, die Migranten würden klug und gelassen auf diese Herausforderung reagieren. „Wir müssen versuchen, vorhandene Probleme durch direkte Zusammenarbeit zwischen Politik und Gesellschaft zu lösen, dann können wir bereits ein Stück weit sehen, dass wir angekommen sind. Aber nur beleidigt und verletzend sein, damit kommen wir nicht weiter“. Deutschland reagierte auf die Äußerungen von Bundesbank-Vorstandsmitglied Thilo Sarrazin über Migranten mit Entsetzen und diese Publikumswirksamkeit kann nicht nur wirkungsvoll über das Medium Fernsehen belichtet werden. Dieter Graumann, der Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland sagte in Handelsblatt online: „ Die Meinung von Herrn Sarrazin hat nichts mit der Bundesbank zu tun. Daher sollte die Bundesbank auch besser nichts mit Herrn Sarrazin zu tun haben“. Die FDP Fraktionschefin Birgit Homburger sagte der Nachrichtenagentur DPA: „Die diskriminierenden Äußerungen von Herrn Sarrazin sind nicht akzeptabel“ Sarrazin verletzte seine Pflicht zur Politischen Zurückhaltung. Am 9. September um 22:15 Uhr verfolgte ich mit Interesse eine Sendung des ZDF: „Sarrazins Erfolg - Versagen der Politik?“. Maybrit Illner diskutierte mit dem SPD-Chef Sigmar Gabriel, dem ehemaligen bayerischen Ministerpräsidenten Günther Beckstein (CSU), der Schriftstellerin Thea Dorn sowie mit Georg Mascolo, Chefredakteur des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" über Sarrazins Buch. Die Moderatorin eröffnete die Diskussion mit einer Frage an den SPD Chef über die Meinung der Partei zu Sarrazins Äußerung. Dieser erklärte, die Ansichten der Partei seien mit diesen Thesen nicht vereinbar. Sarrazin missachte mit seinen Verlautbarungen die deutsche Leitkultur, die in Artikel 1 der Verfassung festgeschrieben stehe: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Zudem habe Sarrazin die Misserfolge in der Integration faktisch unhaltbar auf eine genetische Vorbestimmtheit ganzer Völker und Kulturen durch Vererbung zurückgeführt. Hinzu folgte Beckstein dem Gespräch mit Beschreibungen des Themas Integration. Er meinte, dass Sarrazin provoziert und manche Dinge wie genetische Bestimmung von Intelligenz natürlich auch völlig falsch sind. Hierbei ergänzte er, dass diese nur gelinge, "wenn die Zahl der zu Integrierenden begrenzt ist". Keine Gesellschaft könne "schrankenlos andere Kulturen aufnehmen". Die Philosophin Thea Dorn fügte zu dem Thema ein, dass sie die Aufnahme einer offenen Diskussion um Integration fordert und sagte: "Wir müssen anfangen, über die real existierenden Verwerfungen, Spannungen und Disharmonien, die es in diesem Land gibt, offen zu reden". Normalerweise versucht die Politik solche Probleme einfach unter den Tisch fallen zu lassen. Die Genetik-Debatte betreffend, meinte sie, dass Sarrazin, nur weil er ein Mann der Zahlen ist glaubt, er hätte besonders treffende Argumente. Der Chefredakteur des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ meinte, der Umgang der SPD mit Sarrazin sei nicht richtig. Die SPD ist die Partei der Meinungsfreiheit. Die SPD hätte die Auseinandersetzung mit Sarrazin suchen, sich inhaltlich mit ihm auseinandersetzen müssen." Eine Aufbereitung des brisanten Themas ist sicherlich eine Wohltat für die journalistische Ebene des deutschen Fernsehens. Viele Debatten reihen sich aneinander, viele verschiedene Meinungen werden erläutert, diskutiert oder zumindest gehört bzw. gesehen. Aber letztlich fasst das Medium selbst nicht den Mut, über die Äußerungen der verschiedenen Talk-Gäste hinweg, klare Positionen zu beziehen, geschweige denn, Lösungen anzubieten. Aber ist denn das eigentlich die Aufgabe des Fernsehens? Lediglich als neutrale Plattform für Stimmungsmachung und Publizistik zu dienen, ist mir persönlich jedenfalls zu wenig. In Deutschland steht im Grundgesetz die Meinungsfreiheit als Recht für jeden Bürger und das sollte auch für gestandene Journalisten gelten. Aber nach der Erscheinung von dem Buch „ Deutschland schafft sich ab“ tauchte der mediale Aufschrei und Sarrazins Aussicht auf eine Haftstrafe auf, nur weil er seine Meinung kundtat, was zeigt, wie traurig es um die Meinungsfreiheit in der Bundesrepublik steht. Doch egal, wie polemisch Sarrazins Äußerungen auch sein mögen: Er hat das Recht dazu und bewegt sich auf dem Boden der Meinungsfreiheit. Die Form, wie man ihn aufgrund einer persönlichen Meinungsäußerung nun medial hinrichten will, ist geschmacklos und in einer Demokratie, die freiheitliche Grundrechte proklamiert, mehr als unwürdig. Kann man seine von der politischen Korrektheit abweichende Meinung nicht mehr formulieren, ohne Angst haben zu müssen?

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