TV Kultur und Kritik
ist im Rahmen einer Übung im Fach Medienwissenschaft an der Universität Regensburg entstanden. Der Blog versammelt Kritiken zu den unterschiedlichsten Facetten der Fernsehkultur, die von arte (Breaking Bad) bis RTLII (Die Geissens) reicht. Ziel ist es eine Kritik zu etablieren, die dem Wesen, der Rezeption und der Faszination für das Format gerecht wird. Wir sind offen für Beiträge, die die Auseinandersetzung mit dem Fernsehen erweitern.

Montag, 6. Februar 2012

Nip/Tuck und das Phänomen „Arztserien“


von Tilly Kaul 

Arztserien: Jeder kennt sie. Gutaussende Ärzte und Krankenschwestern versuchen als Retter in übertriebenen Notfallsituationen die eigenen physischen und psychischen Wunden, wie die ihrer Patienten und anderer Mitmenschen zu behandeln. Die sogenannten Arztserien gehören seit langem zum unverzichtbaren Bestandteil unserer Fernsehkultur und sind daraus nicht mehr wegzudenken. Klinik unter Palmen, Dr. Stefan Frank, der Arzt, dem die Frauen vertrauen, Royal Pains usw… die Auswahl ist groß.
So ist dieses "Genre" aber nicht nur neuerdings beliebter Fernsehstoff – schon 1984 eröffnete die erfolgreiche Schwarzwaldklinik ihre Tore im deutschen Fernsehen, um für das Wohl der Patienten zu sorgen und sich mit allerlei zwischenmenschlichen Konflikten unter den Ärzten, Patienten oder deren Angehöriger auseinanderzusetzen.
Trotz anfänglicher schlechter Kritiken avancierte die TV-Krankenhausromanze zur beliebtesten deutschen Serie und ist damit Vorreiter aller aufkommenden Ärzteformate, mit denen sich viele Sender einen ähnlichen Erfolg versprachen. Besonders erfolgreiche, wie Der Landarzt (ZDF) oder In aller Freundschaft (ARD) operieren nach über 20 Jahren noch heute, während andere wiederum schnell von der Bildfläche verschwunden sind.
Während allein Deutschland auf über 20 verschiedene und besonders erfolgreiche Arztserien zurückblicken kann, sind es in Amerika fast 70 und über 200 weltweit – aber was macht dieses Genre so attraktiv?


Interesse am medizinischen Alltag wird wohl selten allein der Grund sein, denn gerade der ist es, der an diesem Genre so viel Kritik hervorruft, speziell die unrealistische Darstellung des Ärztealltags mit übertrieben spektakulären und unrealistischen Notfällen (oder hatten Sie schon mal einen einbetonierten Mann im Wartezimmer neben sich sitzen?).
Wahrscheinlicher wären da die überdurchschnittlich gutaussehenden Super-Ärzte, denen man nur selten ihre 80-Stunden-Woche ansieht, und ganz besonders die mit ihnen verbundenen internen Liebschaften und zwischenmenschlichen Krisen, die sie Woche um Woche in immer tiefere Dramen verstricken. Das würde zumindest die weibliche Zielgruppe unter 30 erklären, die wohl noch immer am Glauben festhält, irgendwann doch von George Clooney persönlich behandelt zu werden.
Wie schon an der Anzahl der Produktionen weltweit zu erkennen ist, beschränkt sich die Vorliebe von gutaussehenden Charakteren in weißen Kitteln nicht allein auf das deutsche Fernsehen. Nein, die Amerikaner entdeckten das Potenzial schon in den fünfziger Jahren, wo der Krankenhausvorreiter City Hospital erstmals auf Sendung ging. Heute, mehr als 50 Jahre später, ist das Interesse daran noch nicht verloren. So geht die Erfolgsserie General Hospital, die schon in den 60er Jahren Patienten behandelte, inzwischen (nach 49 Staffeln) auf die 12.500. Folge zu.
Jüngeren Leuten ist wohl vor allem Emergency Room ein Begriff, eine Serie, die sich von 1994 bis 2009 besonders ungewöhnlichen Fällen in der amerikanischen Notaufnahme widmete und mit ihrer Mischung aus einer vielfach ausgezeichneten (im Gegensatz zu seinen Schwesterformaten) authentischen Krankenhausalltags-Darstellung und den bereits erwähnten Beziehungsdramen und Sinnkrisen der Hauptcharaktere eine der weltweit beliebtesten TV-Serien geworden ist. Im Hinblick auf Arztserien allgemein lassen sich vor allem diejenigen mit Krankenhausthematik als besonders erfolgreich bezeichnen. So knüpften Serien wie Grey‘s Anatomy, Hawthorne oder die Krankenhaus-Parodie Scrubs (jeweils auf Pro7) mühelos an bereits erwähnte Erfolge an.
Doch es gibt auch Formate, die versuchen, sich vom erfolgreichen Krankenhauskonzept abzusetzen und sich von einer doch oft weichgespülten Wunsch-Realität zu entfernen. Man bedenke hierbei den notorisch schlecht gelaunten Dr. House auf RTL, der selbst abhängig von Medikamenten einen denkbar unseriösen Arzt abgibt, oder die juristischen Fälle um die Gerichtsmedizinerin Jordan Cavanaugh in Crossing Jordan auf VOX.
Eine Serie, die sich ebenso der zurechtgemachten Krankenhausfassade entziehen will, ist Nip/Tuck- Schönheit hat ihren Preis. Nip/Tuck, das (übersetzt mit "schneiden" und "zusammenraffen") den Vorgang beim Facelifting beschreibt, nahm sich 2003 dem Thema Schönheitschirurgie an, das zu Beginn dieses Jahrtausends mit der Einführung von Botox einen neuen Aufschwung erlebt hat. Eine Serie, die sich von der oft realitätsfernen Darstellung beziehungsabhängigen Krankenhausalltages distanziert und die Praxis um zwei Schönheitschirurgen in Miami in den Mittelpunkt stellt. Anders als bei den beliebten Notfallbehandlungen stehen hier nötige und unnötige Schönheitsoperationen im Mittelpunkt der Serie, die auf dermaßen schonungslose Art und Weise zeigt, was für ein Geschäft die beliebten Eigenverbesserungen wirklich sind, dass man als Zuschauer oft – zwischen Ekel und Schaulust gefangen – nicht weiß, ob man hin- oder wegschauen soll.
Es wird kein Klischee um gutaussehende, geldgierige, nur am eigenen Vorteil interessierte Chirurgen, wie auch um ewig an der Jugend festhaltende Reiche ausgespart. Die Serie parodiert damit sowohl bisherige Ärzteformate, wie auch die Schönheitsindustrie und die mit ihr verbundenen Vorurteile und Ängste an sich.
Im Gegensatz zu den dramatischen Operationen der Krankenhausserien, in denen die Patienten in letzter Sekunde gerettet werden können oder am besonders tragischen Höhepunkt sterben, geht es bei Nip/Tuck um die auf unverblümte Art dargestellte Weise, wie Operationen durchgeführt werden. Unter gut gelaunten Johnny-Cash- oder flippigen Blondie-Klängen werden mit Hammer und Meißel Nasenknochen bearbeitet, Gesichtshaut ab- und geliftet wieder aufgezogen oder medizinisch unbrauchbare Implantate verpflanzt, als schraubte man ein neues Auto zusammen. Dies zeigt auch das oft fehlende Feingefühl der Chirurgen, wodurch es häufig passiert, dass Implantate wegen einer Unachtsamkeit mehrmals raus- und wieder reingenäht werden müssen, Werkzeuge in Patienten vergessen werden oder abgetrennte Finger auf einmal in falscher Reihenfolge wieder an den Händen sitzen. Diese Situationen sind nur einige, an denen der schwarze Humor der Serie erkennbar wird, der sie so sehr auszeichnet.
So wird im Gegensatz zu bisherigen Formaten bei Operationen auch nicht davor zurückgeschreckt, jeden Handgriff mit so besonderer Präzision zu zeigen, dass dem Zuschauer wirklich nichts erspart bleibt. Und trotz des starken Bedürfnisses, sich bei diesen Szenen angewidert abzuwenden, bleibt einem ein gewisses Schmunzeln auf den Lippen zurück, so absurd ist doch die Mischung aus Ekel und Faszination bei dem Gedanken, dass Menschen sich unter diesen Umständen freiwillig unters Messer legen. Neben all den freiwilligen Selbstverstümmelungen gibt es aber auch die Operationen, die entweder die Pfuscherei anderer Schönheitschirurgen beheben sollen oder wirklich von medizinischem Wert sind.
Auf der Suche nach positiven Botschaften, die solche Serien immer irgendwo überbringen wollen um eine junge Zielgruppe anzusprechen, könnte man die Wohltätigkeit kostenfreier Operationen anführen (wenn diese meist nicht nur wegen ihres Image-fördernden-Gehaltes angesetzt worden wären). Geprägt von Geldgier, unethischen Entscheidungen, Schönheitsoperationen als Allheilmittel, Manipulation und Sex verfügt die Serie über wenig Vorbildpotenzial (was in Amerika als Hauptkritikpunkt bei der Bewertung von Serien und Filmen gilt) und rechtfertigt damit wahrscheinlich sein amerikanisches Rating "R" („restricted“ – ab 17 Jahren), wie die deutsche Altersfreigabe ab 18 Jahren.
Natürlich schließt diese Altersfreigabe den besonders wichtigen Teil der 14- bis 49-jährigen Zielgruppe aus, die einen Großteil der hohen Einschaltquoten von Arztserien à la Greys Anatomy und Co. ausmacht – aber wie an der bereits genannten Thematik zu erkennen ist, legt Nip/Tuck den Fokus nicht auf dieses Publikum. Erfrischend an der Serie ist, dass sie weit über gängige Charakter-Klischees, wie der des 'Strebers', 'Schönen' oder 'Losers' usw. hinausgeht, die in eigentlich jeder erfolgreichen Serie vertreten sind. Damit zeigt sie trotz unermüdlicher Ausschöpfung gängiger Klischees und einer insgesamt sehr oberflächlichen Thematik erstaunlich tiefgründige und vor allem realistische Hauptpersonen, die neben positiven auch mindestens genauso viele negative Charaktereigenschaften aufweisen und damit keinem „McDreamy“ dieser Welt entsprechen. Nip/Tuck ist eine Serie, die sich an ein erwachsenes Publikum richtet, was gleichermaßen nicht vor der Realität und den mit ihr verbundenen Problemen und Lasten, wie auch einer extrem schonungslosen Darstellung zurückschreckt. Sie erfrischt durch herrlich klischeelose Klischeehaftigkeit und hat den platten Krankenhausformaten damit einiges voraus.
Vor dem Hintergrund der unzähligen Arzt-Dramen, die sich inzwischen in unseren Fernsehern abspielen, ist es schade, dass außergewöhnliche Formate wie Nip/Tuck trotz mehrfacher Auszeichnungen nach sechs Staffeln eingestellt wurden, während wir nicht müde werden, sechs Jahre Grey’s Anatomy, 20 Staffeln Landarzt und die bald 12.501 Episode General Hospital zu ertragen.

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