von Herbert Schwaab
Montag Abend habe ich auf Arte einen Film des französischen Regisseurs Claude Chabrol gesehen. Eine komplexe Rachegeschichte aus dem Jahr 1969 mit einem monströsen, unfallflüchtigen Familienvater, dessen Tod nicht nur von dem Vater des bei dem Unfall getöteten Jungen, sondern von der ganzen Familie gewünscht wird. Ein kleiner böser Film von einem der Hauptvertreter der Nouvelle Vague, die in den 1960er Jahren das Kino erneuert hat. Es ist ein nicht unwichtiges Werk der Filmgeschichte, das ich bisher noch nie gesehen hatte, mit wunderbaren Bildkompositionen in den gemäldeartigen Aufnahmen der kaputten Familienkonstellation in den Innenräumen, die auf dem großen Bildschirm unseres neuen Fernsehers noch besser aussahen. Solche Filme lassen sich nicht auf Netflix finden. Das Netflixpublikum sind seelen- und geschichtslose Menschen, die in einer ewigen Gegenwart gefangen sind. Die klassischen Zuschauer und Zuschauerinnern des Fernsehens waren dagegen, auf natürliche Weise, in verschiedenen Jahrzehnten der Filmgeschichte zuhause.
Der französische Filmkritiker Serge Daney bemerkte einmal über den Klassiker Night of the Hunter von 1959, den er als guter Cinephiler etliche Male im Kino gesehen hatte, das ihm dieser Filme nie mehr fasziniert und gefallen habe als bei einer zufälligen, nächtlichen Begegnung im Fernsehprogramm der 1980er Jahre. Fernsehen ist ein wunderbarer Ort, Filmen zu begegnen. Es ist so etwas wie ein Zufallsdispositiv. Es bleibt häufig undurchsichtig, warum dieser oder jener Film in einem Programm läuft, wer ihn ausgewählt hat, warum er gerade zu dieser Zeit läuft. Fernsehen wählt für uns aus, Fernsehen fügt Filme unterschiedlichster Jahrzehnte und Genres wild zusammen. Es durchkreuzt unserer Erwartungen und öffnet uns für fremde und neue Erfahrungen. In der Frühzeit des Fernsehens in den USA in den 1950er Jahren boten nur die ärmsten aller armen Studios, die sogenannten Poverty Row Studios wie Republic oder Monogram ihre billigen Horror, Western- und Actionsfilme den Fernsehsendern zur Ausstrahlung an, weil die größeren Studios nichts mit dem gefürchteten Konkurrenzmedium zu tun haben wollten. Eine Folge war eine Generation von Kinder, die durch Horrorfilme traumatisiert wurde, sich aber ebenso lebendig an das halbverbotene Schauen obskurer Filme zu später Stunde erinnern konnten. Eine weitere Folge war eine große Liebe für populärkulturelle Erzeugnisse und eine Faszination für die Grundreize des Filmischen befreit von allem Bombast und Kunstfertigkeit, aber auch so etwas wie eine Neubewertung der Filmgeschichte, die marginale Werke in den Vordergrund treten ließ.
Alles, was ich vom Kino weiß, weiß ich vom Fernsehen. Das Fernsehen hat mich schon früh zu einem Cinephilen gemacht, zu einem Liebhaber des Kinos, ohne dass ich je im Kino gewesen wäre. Mein Interesse für Filme und ihre Geschichte wurde allein vom Fernsehen geweckt und gestillt, ins Kino konnte ich erst wenige Jahre später Filme einigermaßen regelmäßig sehen. Die öffentlich rechtlichen Sender, erstes und zweites Programm und die Landesssender der ARD strahlten in dieser Zeit über den Tag verteilt, aber vorwiegend in der frühen Nacht, fast alle Filme des klassischen Hollywoodkinos aus, von den 1920er Jahren bis zu den 1960er, dazu noch europäisches Unterhaltungskino, französische und italienische Komödien, und internationales Kunstkino. Ich habe tausende von Filmen gesehen, nach und nach fast alle wichtigen Werke der Filmgeschichte, ich habe auf sie geduldig gewartet, denn es gab keine DVD und kein On demand, nur irgendwelche anonymen Redakteure und Redakteurinnen, die darüber bestimmten, welche der Filme, deren Rechte sie aufgekauft hatten, sie an welchem Abend zeigten. Dank des Fernsehens gab es in den 1970er und 1980er Jahren noch keine Dominanz des amerikanischen Unterhaltungskinos. Unser Held war der französische Filmkomiker Luis de Funès. Jeder am Samstagabend ausgestrahlte Film war ein Ereignis, das am Montag auf dem Pausenhof mit Aufzählungen der besten Gags diskutiert wurde. Fernsehen hat Gemeinschaften mit geteilten Erinnerungen gestiftet.
Aber auch eine spezifische Form von Einsamkeit war mit dem Medium verbunden. Der wichtigste Schritt in meine Ausbildung zu einem Cinephilen war die Übernahme des alten Fernsehers meiner Eltern und dessen Überführung in mein kleines Kinderzimmer. Dort im Bett liegend, vor dem Einschlafen einen Schwarzweißfilm auf einem Schwarzweißfernseher zu schauen bot den perfekten Rahmen für ein intensives Erleben dieser Filme. Das Kinderzimmer und später Jugendzimmer war mein Kino, ein Ort traumatischer Begegnungen mit Horrorfilmen, die ich besser nicht so früh geschaut hätte und deren Erinnerungen ich mit in einen unruhigen Schlaf nahm (Psycho oder Polanskis Der Mieter gehören dazu). Es war auch ein Ort großer Trauer und Erschütterung, wenn ich in den Filmen den Schicksalen von der Gesellschaft ausgegrenzter Menschen begegnete (Fellinis Il Bidone, den ich mit 13 gesehen habe, hat mich sehr unglücklich gemacht). Das Kino im Fernsehen hat mich auf nachhaltige und produktive Weise verdorben, aber ich bin ihm keineswegs böse deswegen.
Das alles wirkt wie wehmütige Erinnerungen an vergangene Zeiten und sind es auch, weil das Fernsehen heute zwar so viele Sender wie nie haben mag, aber auch so wenig alte Filme wie nie ausstrahlt. Das klassische Hollywoodkino aber auch viele andere Areale der Filmkultur und Filmgeschichte finden im Fernsehen nicht mehr statt oder werden auf wenig bekannte Bezahlsender wie TNT verbannt. Das Fernsehen zeigt vorwiegend aktuelle Kinofilme, sein Gedächtnis reicht nicht mehr bis in die 1920er Jahre, sondern allenfalls bis zu den 1990er Jahren zurück – Filme, die von heutigen Studierenden bereits als alt bezeichnet werden und mich dann immer sehr alt aussehen lassen. Es werden noch gelegentlich auf Sendern wie WDR oder den Ablegern von ZDF aktuelle Filme des internationalen Kunstkinos gezeigt, aber einzig Arte bietet noch regelmäßig die Möglichkeit, ältere Filme zu schauen und damit sein Wissen zur Filmgeschichte aufzufrischen. Für mich war eine ferne Vergangenheit immer auch Gegenwart, war es selbstverständlich von Filmen aus anderen Zeitaltern unterhalten zu werden. Heute ist Gegenwart Gegenwart und alles andere ist Nostalgie, die auch als solche in Serien wie Stranger Things gebrandet wird und damit vergangen bleiben muss. Wenn Netflix das Fernsehen ersetzt, wird endgültig auch ein Wissen über die Filmkultur verschwinden und die Algorithmen der Plattform werden dafür sorgen, dass Altes nur in homöopathischen Dosen zugänglich wird. Für das Fernsehen wurden Filme gemacht. Für Netflix gibt es nur noch Content. Schade. Aber es gibt ja noch YouTube.
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