TV Kultur und Kritik
ist im Rahmen einer Übung im Fach Medienwissenschaft an der Universität Regensburg entstanden. Der Blog versammelt Kritiken zu den unterschiedlichsten Facetten der Fernsehkultur, die von arte (Breaking Bad) bis RTLII (Die Geissens) reicht. Ziel ist es eine Kritik zu etablieren, die dem Wesen, der Rezeption und der Faszination für das Format gerecht wird. Wir sind offen für Beiträge, die die Auseinandersetzung mit dem Fernsehen erweitern.

Mittwoch, 24. Juli 2019

Wie ich versuchte, Fan einer Daily-Soap zu werden, wie ich daran gescheitert bin und warum das Internet daran schuld sein könnte

von Paul Völkl

Die RTL-Daily-Soap(-Opera) Unter uns wurde mir von einer Zuschauerin als ihr guilty pleasure vorgestellt. Guilty pleasure - dass dieser Ausdruck Eingang in unseren Sprachgebrauch gefunden hat, weckt in mir den Verdacht, dass ein gewisses Maß an Geschmacklosigkeit heutzutage en vogue ist. Ich für meinen Teil liebe es, Leuten zu erzählen, dass ich Conan der Barbar für ein filmisches Meisterwerk halte. Ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern, was sie mir über Unter uns sagte, aber die Quintessenz war wohl, dass die Sendung eigentlich blöd, aber gerade dadurch auch lustig und sehenswert ist. Seitdem habe ich sporadisch einzelne Episoden gesehen, verfolgte den Verlauf der Handlung aus einiger Distanz und schämte mich ein wenig dafür, überhaupt zu wissen, was da so abging.
Mich faszinierte vor allem die Tatsache, dass U.u. seit 1994 fünf Mal pro Woche ausgestrahlt wird. Unter uns war älter als ich und hatte mit seinen 6000+ Folgen fast 10 Mal so viele Folgen wie Die Simpsons, was meiner Fan-Ehre einen tiefen Kratzer versetzte. Die Aufopferung, die ich in meiner Kindheit und Jugend aufbrachte, jeden Abend vor dem Fernseher zu sitzen, obwohl ich jede Folge bereits mitsprechen konnte, verblasste vor der Möglichkeit, dass es Menschen geben könnte, die seit 20 Jahren Unter uns guckten und dabei sogar noch einer Handlung folgen mussten. Eigentlich ist es auch total egal, ob jemand die Serie seit 1994 wirklich regelmäßig guckt. Wichtig ist nur: Es gibt Menschen, die U.u. gucken und am Leben halten. Fans. Wer sind diese Fans und wie sind sie zu solchen geworden? Gibt es Leute, die diese Serie wirklich gut finden? Oder sind sie bloß fiktive Konstrukte, hypothetische Dritte, erfunden von den Guilty-pleasure-Zuschauern um zu leugnen, dass die Serie in Wahrheit für sie geschrieben wird? Oder fängt jeder als ironisch-distanzierter Zuschauer an und wird schließlich zum YouTube-Montagen bastelnden Unter-uns-Ultra? Lassen sich die Lager der ironischen und der nicht-ironischen strikt trennen, gibt es ein soziales Gefälle im Fantum? Um das Dreieck aus Soap-Opera, ihrer Guilty-pleasure-haftigkeit und dem Fan zu entschlüsseln, begebe ich mich auf eine Reise tief in das Herz des Frühabendfernsehens. Ich wollte zum Unter-uns-Fan werden.
Ich nehme mir vor, die Serie täglich zu gucken. Da ich keinen Kabelanschluss habe, um die Sendung zu ihrer regulären Sendezeit, montags bis freitags um 17.30 auf RTL, zu sehen, weiche ich auf TVNOW, das hauseigene Streaming-Portal der RTL-Gruppe (der Begriff Fliesentisch-Netflix spukt mir im Kopf herum), aus. Jede Episode wird dort nach Ausstrahlung hochgeladen und bleibt für einige Tage im Netz. Dies soll sich später noch als fatal für meine Fanwerdung erweisen.
Meine Reise beginnt bei Episode 6096. Aufgrund meiner vagen Kenntnisse des Geschehens und der Charaktere, fällt es mir nicht allzu schwer in die Handlung einzusteigen: Dreh- und Angelpunkt der Serie ist die Schillerallee in Köln. Hier wohnen, arbeiten, leben und lieben die Charaktere. Von denen gibt es einige: Der Webauftritt von Unter uns zählt momentan 22 solcher „Stars“ (Begriff von RTL.de). Fast alle stehen zueinander irgendwie in familiären (mit den drei großen Dynastien Weigel, Küpper und Huber), amourösen, geschäftlichen, intriganten oder freundschaftlichen Verhältnisse. Die Serie vereint dabei mehrere Generationen: Die diegetisch älteste Figur ist wohl Roswitha Küpper-Pütz, deren Urenkelin Larissa Huber wiederrum alt genug ist, um im Bauunternehmen ihres Vaters zu arbeiten und eine Kokain-Abhängigkeit entwickelt zu haben. Die Serie hält was ihr Name - Unter uns – verspricht: Nachbarschaft und Verwandtschaft als Mikrokosmos, das Dorf in der Großstadt (und immer wieder latent inzestuöse Beziehungen).
Die Handlung wird in einer Soap-Opera-typischen Zopfdramaturgie vorangetrieben: Verschiedene Handlungsstränge laufen parallel zueinander in verschiedenen Stadien ab, der brisanteste Strang wird im Vordergrund erzählt, beginnende oder ausklingende im Hintergrund. Die ersten Folgen, die ich sehe, fokussieren sich auf den Gerichtsprozess um Jakob Huber, dem der Mord am Ex-Freund und Stalker seiner Frau angelastet wird, und den Versuch von Eva Wagner, ihrem Ehemann Till ihre Affäre mit seinem Sohn (ihrem Stiefsohn, keine Angst!) Connor zu verheimlichen. Die Katastrophe scheint in beiden Fällen in greifbare Nähe zu rücken. Das ist gut, denn die Handlungsstränge, die sich parallel im Hintergrund entwickeln, unterhalten zwar durch ihre nicht immer ganz freiwillige Komik, bieten aber ansonsten wenig, was das Gefühl in mir auslöst, das Ganze hier freiwillig zu sehen.
Episode 6100: Tobias, Jakobs Anwalt (der nebenbei in der Radio-Sendung T-Time FM ungefähr zur Hälfte jeder Folge ein kurzes Meta-Kommentar zum Geschehen abgibt), bricht im Gerichtssaal zusammen – er hat einen Schlaganfall. Zur gleichen Zeit verfolgt Till Eva, weil er vermutet, dass sie sich mit ihrem Liebhaber trifft und sieht sie mit Connor. Ich bin on fire, obwohl (oder gerade weil) die Geschehnisse absolut vorhersehbar waren: Schon einige Tage vor der Ausstrahlung finden sich online Behind-the-Scenes-Videos mit Titeln wie »So wurde Tobias Schlaganfall gedreht«. Ähnliche Informationen lassen die Kurztexte unter den Episoden der nächsten Tage durchsickern, die sich Premium-TVNOW-Nutzer schon früher angucken können. Gleiches gilt für die Inszenierung: Tobias Zusammenbruch wird durch eine schwankende Kamerafahrt um seinen Kopf dargestellt; als Till Eva und Connor zusammen sieht, guckt er sie mit offenem Mund an – Schnitt. Ende der Folge. Unter uns ist häufig sehr vorhersehbar und gerade dann macht es mir Spaß: Ich weiß, dass etwas passieren wird, das auf jeder Ebene ein bisschen zu doll sein wird. Die Handlung wird ein bisschen zu absurd, die Unwahrscheinlichkeit eines Ereignisses etwas zu sehr ausgereizt, Emotionen werden etwas zu stark gespielt, das Missverständnis etwas zu offensichtlich.
Danach wird erstmal alles wieder ein bisschen entschärft und stabilisiert: Tobias überlebt, liegt im Koma und wird von seinem Hund Stinker geweckt. T-Time FM wird zu Rosis Teestunde. Till checkt es mit Eva und Connor doch nicht. Diese Talfahrt-Episoden sind nicht per se schlecht. Es gibt wieder lustige Szenen, in denen sich die Serie nicht zu ernst nimmt: Robert Küpper, der vor dem gesunden Lebensstil seiner Frau flieht und heimlich Bratwurst essen geht oder Britta Sturm, die beim Flirten lasziv in einen rohen Pilz beißt. Doch hier wird die Serie, in ihrem Bemühen ernste Handlungsfäden aufzubauen, zu seriös und nervt mich mit ihren Versuchen Charakterentwicklung darzustellen. Diese wäre fesselnd, wenn es nur eine Figur gäbe, die ich wirklich interessant oder sympathisch fände. Im Aufbau neuer Konflikte wird mir deren Selbstzweck manchmal etwas zu bewusst. Meine Motivation, der Serie zu folgen, sinkt.
Ich beginne auf Details zu achten: Die Charaktere sehen so aus, als kommen sie aus dem H&M-Katalog. Alles ist hell, steril und pseudo-geschmackvoll eingerichtet, trotzdem spüre ich, dass mir so etwas wie Kultigkeit vermittelt werden soll. Robert Küpper redet Roswitha immer mit »Mutter« an. Konflikte entstehen dadurch, dass sich Figuren missverstehen oder dass irgendwie jemand denkt, dass jemand anderes irgendetwas aus einem bestimmten Grund gemacht hätte, was er dann eigentlich aus einem ganz anderen Grund getan hat.  Wenn eine Figur vor einer anderen etwas verheimlicht oder ein schlechtes Gewissen hat, dann wird dies dadurch dargestellt, dass sich beide umarmen und die/der mit dem schlechten Gewissen über die Schulter von der/dem mit dem nicht-schlechten Gewissen schaut, die Miene verzieht und die Kamera von schräg-oben sein Gesicht aufnimmt. Es scheint den Machern von U.u. ein großes Bedürfnis zu sein, dass man durch non-verbale Kommunikation immer ganz deutlich mitbekommt, was in den Figuren vorgeht. Das soll subtil wirken, ist es aber meistens nicht.
Aus Zeitmangel schaue ich mir Episode 6107 einen Tag verspätet an und stelle mir damit selber ein Bein: Ich merke, wie leicht es fällt, die Sendung einfach nicht zu gucken. Da ich durch TVNOW erstmal keine Gefahr laufe, eine Episode zu verpassen, beginne ich zu Prokrastinieren (dass ich das jemals in diesem Kontext über eine Serie sagen würde!) und lasse drei Episoden ausfallen. Am Sonntag (dem 2. U.u.-freien Tag der Woche) bekomme ich ein schlechtes Gewissen und gucke eine Folge. Zu Recht – in dieser Folge passiert tatsächlich etwas Dramatisches (hätte ich nur mal den Beschreibungstext ordentlich gelesen): Leni, eine neue Figur, enthüllt, dass sie in echt die Tochter von einem von zwei möglichen anderen Figuren sein könnte. Wow – deshalb hat sie immer Fotos der beiden aus der Tasche geholt. Paradoxerweise versetzt diese »aufregende« Folge meiner Motivation den Todesstoß. Die altbekannte Regel sagt mir: Ab jetzt wird’s wieder seriös. Hier endet meine Reise.
Ich bin am meinem Versuch gescheitert, ein echter Unter-uns-Fan zu werden. Schuld daran gebe ich Unter un… äh unter Anderem den Serienschreibern und ihren Versuchen, Tiefgang zu erzeugen (was in flachen Gewässern schwierig ist) und meinem eigenen schwachen Willen. Internet und TVNOW spielen in dieser Frage eine widersprüchliche Rolle, da sie mich einerseits häufig mit Hinweisen fütterten, die mein Interesse am Geschehen anfachten, mir aber in schlechten Zeiten auch die Möglichkeit zum Aufschub und damit zum Ausstieg boten. Wer diesen Versuch wiederholen will, der sollte dazu in der Lage sein, sich sowohl für die ernsten Ambitionen der Serie, als auch ihre schrägen und freiwillig-unfreiwillig komischen Stellen begeistern zu können. Es sei gesagt, dass ein sanfter Einstieg in die Sendung, mit einer zwanglosen Dosis von vielleicht 2-3 Episoden wöchentlich, zu empfehlen ist, da die Menge an Figuren und Handlungen ansonsten eine abschreckende Wirkung haben könnte.
Ich verlasse Unter uns mit dem ehrfürchtigen Wissen, dass diese Sendung vor mir da war und mich wahrscheinlich auch überdauern wird, egal ob ich sie gut finde oder nicht. Voller Scham gehe ich jetzt wieder Simpsons gucken. Hey – die Folge habe ich erst 18 Mal gesehen…

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